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Textbeiträge 2025

An dieser Stelle veröffentlichen wir Texte und Debattenbeiträge. Wer Anmerkungen dazu hat, wende sich an die IVA-Redaktion (siehe „Kontakt“).

März

Olé, wir verweigern uns!

Unterstützt die CSU die Werbung für Ole Nymoens neue Streitschrift gegen die Vaterlandsverteidigung? Zu dieser und anderen Fragen hier einige Hinweise der IVA-Redaktion.

Mit den Aufrüstungsplänen der alten/neuen Bundesregierung ist das Thema Wehrdienst wieder auf der politischen Tagesordnung. Die Wehrpflicht, darauf hat IVA Anfang des Jahres aufmerksam gemacht, wird wiederkommen – erneuert, erweitert, verbessert, wie auch immer. Denn dafür gibt es, jedenfalls im Grundsatz, seit dem letzten Jahr eine große christ- und sozialdemokratische Einigkeit. Im CDU/CSU-Wahlprogramm wurde eine aufwachsende Wehrpflicht gefordert. Und das Verteidigungsministerium arbeitet auf Anweisung von Pistorius seit Dezember 2024 daran, „die Parameter zur Einführung eines neuen Wehrdienstes weiter auszuplanen und gemeinsam mit der Umsetzung zu beginnen“. Jetzt hat die CSU noch einmal besonderes Tempo angemahnt: „Wir müssen so schnell wie möglich abschreckend sein“. Möglichst schon 2025 sollte der Wehrdienst starten.

Die Junge Union braucht da ihre Mutterparteien nicht groß zu drängen. „Bitte seid ehrlich zu uns“, vermeldet sie Spiegel: „Die Wehrpflicht wird kommen“. Weil diese aber die Jungen betreffe, brauche es einen „fairen Lastenausgleich“ bei der Finanzierung der Verteidigung. Das Geld ist ja kein Problem, wie man neuerdings erfährt. Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högel (SPD), ist nur etwas skeptisch, was die Wiedereinführung des alten Modells betrifft. Aber sie erklärte gleich bei der Vorlage ihres Jahresberichts 2024, dass „es in naher Zukunft irgendeine Form von neuem Wehrdienst geben“ werde (Junge Welt, 12.3.25). Zunächst sei der Aufbau einer Wehrerfassung gefragt, „etwa auch von Frauen, die nach wie vor nicht in Massen in den Wehrdienst strömen“.

Das Interesse an diesem speziellen Job ist nämlich überhaupt nicht groß. Högel betonte die Personalnot der Bundeswehr, wegen der zuletzt auch wieder mehr Minderjährige rekrutiert wurden. So etwas geht in den deutschen Leitmedien ohne große Beanstandung durch, während sie sich bei Bedarf über „Kindersoldaten“ in Afrika heftig aufregen können. Proteste wie die vom Bonner Friedensforum veranstalteten Mahnwachen – Motto: „Nie wieder dürfen Kinder eingezogen werden“ – stoßen da beim Publikum auf großes Erstaunen, dass es so etwas in Deutschland gibt. Bei dem angeworbenen Nachwuchs ist übrigens, wie Högel neben anderen Vorfällen aus dem Bundeswehralltag mitteilte, eine hohe Abbruchquote zu verzeichnen. Insgesamt liegt sie im Berichtszeitraum bei 27 %.

Kein Menschenrecht wie alle anderen

Wo die Pflicht, fürs Vaterland Kriegsdienst zu leisten, auf die Tagesordnung gesetzt wird, kommt natürlich das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) wieder zu politischer Bedeutsamkeit. Das gibt es ja in Deutschland, wo dem Weltkriegs-Verlierer einst eine Entmilitarisierung verordnet und ein Artikel 4,3 („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“) im Grundgesetz zugestanden wurde. Das Recht besteht auch bei ausgesetzter Wehrpflicht fort und wird, zum Leidwesen der Regierenden, sogar in Anspruch genommen, nämlich von Soldaten und Soldatinnen, die Dienst tun, sowie von Reservisten. In der Friedensbewegung wird über diese Option diskutiert, deren Zeitschrift Friedens-Forum hat das in der Nr. 2/25 zum Schwerpunkt gemacht.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist allerdings kein Bestandteil des klassischen Menschenrechtskatalogs. Im FriedensForum zeichnet Martin Singe die Bemühungen verschiedener Initiativen nach, der Verweigerung einen verbrieften internationalen Status als Menschenrecht zu verschaffen. Unter den Experten ist das bislang umstritten, eine Mehrheit dafür gibt es nicht. Im herrschenden internationalen Rechtsverständnis zeige sich aber eine Tendenz, die die herrschende Meinung in Frage stellen könnte. Zudem fänden sich für den notwendigen „Kampf um das Recht“ diverse Anknüpfungspunkte, so im „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ der UN, der die Gewissensfreiheit der Bürger stärken will. Nur hat er den Schönheitsfehler, dass dass Recht auf KDV in dem Pakt nicht explizit genannt ist. Interpretationspielraum ist hier, wie Singe belegt, natürlich gegeben. Singe verweist jedoch gleichzeitig auf einen entscheidenden Sachverhalt, der den Grundrechtscharakter der KDV in Deutschland betrifft: Dieses Recht (im GG seinerzeit mit dem Satz „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“ angekündigt) wurde in Rahmen der Wiederbewaffnung der 1950er Jahre bewusst in das „Wehrpflichtgesetz integriert und damit der Wehrpflicht untergeordnet“.

Was das für praktische Konsequenzen hat, konnte man jüngst erfahren, nämlich im Kontext eines Beschlusses zur Abschiebung eines ukrainischen Kriegsdienstverweigerers, über den die Nachdenkseiten berichteten. Der Bundesgerichtshof hielt die Abschiebung des Verweigerers in ein Kriegsgebiet für rechtens. Damit hat er einen Beschluss mit „politischer Handschrift“ gefasst, der weitreichender kaum sein könnte. So der Kommentar des Juristen René Boyke, der sieben Jahre für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gearbeitet und sich mit Asylfällen und Abschiebungen auseinandergesetzt hat. Laut Boyke hat der BGH hier etwas entschieden, was unterm Strich auch weitreichende Konsequenzen für deutsche Kriegsdienstverweigerer habe: Im Falle eines Krieges wäre das Recht auf Verweigerung nicht mehr gegeben, Verweigerer müssten sich den Kriegsnotwendigkeiten unterordnen!

Eine Streitschrift zur Großen Weigerung

Der IVA-Text vom Januar „Was verweigern eigentlich KDVler?“ hatte bereits auf die Position von Ole Nymoen aufmerksam gemacht, der zusammen mit Wolfgang M. Schmitt den Videopodcast Wohlstand für alle betreibt. Dort war Ende 2024 die „Große Weigerung“ Thema, die Herbert Marcuse seinerzeit der 68er-Bewegung ans Herz gelegt hatte. Die jungen Podcastbetreiber sahen hier einen Anknüpfungspunkt – die Idee einer breiten Bewegung betreffend, die sich in politischen, sozialen, kulturellen und eben auch militärischen Fragen gegen die offiziell angesagten Sachzwänge stellt. Was mit der Weigerung konkret gemeint ist, kann man jetzt in Nymoens Streitschrift „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde – Gegen die Kriegstüchtigkeit“ nachlesen, die am 11. März bei Rowohlt erschienen ist. Im Klappentext heißt es:

„Im Krieg wird der Mensch zum Ding, zum bloßen Instrument der Machthaber. Auf ihren Befehl hin gilt es zu töten, und was im zivilen Leben als schlimmstes denkbares Verbrechen gilt, wird zur Alltagshandlung. Dabei wurde uns beigebracht, den Staat als Voraussetzung von Vernunft und Freiheit zu verstehen! Und doch ist er es, der den Menschen vom rationalen und moralischen Wesen in ein Tötungswerkzeug verwandelt.“ (Siehe dazu auch die Kurzvorstellung des Autors im Podcast Wohlstand für alle.)

Renate Dillmann hat zu der Veröffentlichung auf den Nachdenkseiten ein Interview mit dem Autor geführt. Es steht unter der Überschrift „15 Jahre Lagerhaft für den Autor!“ und erinnert damit an den Shitstorm, den Nymoen 2024 mit seinem Statement in der Zeit auslöste. Dem Autor ist natürlich bewusst, dass er – nicht nur von CSU und Junger Union – heftigen Gegenwind zu erwarten hat. Er setzt aber darauf, dass der Zeitgeist noch nicht hermetisch abgedichtet ist, ja dass die offiziell verbreitete und mit Nachdruck versehene Aufrüstungsbegeisterung seinem Einspruch durchaus eine gewisse Aufmerksamkeit verschaffen könnte.

Dillman spricht ihn im Interview gleich auf seine prekäre, aber nicht hoffnungslose Außenseiterposition in der BRD an, wo seit dem Bundestagswahlkampf ja ein regelrechter Überbietungswettbewerb in Sachen Kriegstüchtigkeit stattfindet. Nymoen weist darauf hin, dass schon vor drei Jahren, kurz nach Kriegsbeginn in der Ukraine, Friedrich Merz die Leitlinie ausgegeben habe, Deutschland müsse bereit sein, „in dieser Welt seine Interessen zu definieren, und vor allem bereit sein, diese Interessen auch durchzusetzen.“ Nymoen sieht in den einschlägigen Ansagen das Programm: „Deutschland muss bereit sein, über die eigenen Grenzen hinauszudenken und seine Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen“. Und er fährt fort „Was dafür tatsächlich ‚notwendig‘ ist, das möchte ich nun nicht mühevoll ausrechnen müssen. Für mich ist im Kriegsfall nämlich nicht die Rolle des Machers eingeplant, sondern die des nützlichen Idioten, der mit der Waffe in der Hand tötet und stirbt. Daher werbe ich für einen Blick, der sich nicht mit einzelnen Staaten gemein macht. Stattdessen muss es darum gehen, zu erkennen: Die Kriege werden nie im Interesse derer geführt, die in ihnen sterben.“

P.S. IVA hatte zur Werbung für die Möglichkeiten einer Gegenöffentlichkeit, die es in Deutschland – noch – gibt, im Februar ein Flugblatt vorgelegt. Es existiert jetzt in einer aktualisierten Version, die auch auf das Buch von Ole Nymoen hinweist. Es kann hier heruntergeladen werden und steht Interessenten damit bei Veranstaltungen oder Demonstrationen zur Verfügung. – Bei Wohlstand für alle gibt es übrigens einen neuen Podcast „Deutschland rüstet auf: Wird Merz zum Schuldenkanzler?“, der auf die ökonomische Seite des Aufrüstungsprogramms eingeht.


Blick auf einen anderen Stern

Der Allround-Poet Friedrich Rückert sah schon vor 200 Jahren den finalen Weltkrieg kommen (vgl. IVA Texte, Dezember 2024). Hier eine Vision von Peter Schran, der diese Tradition fortsetzt.

Man muss sich das einmal vorstellen: Auf einem Stern irgendwo im Weltall ermuntert eine Supermacht aus sich mega-grandios verstehenden Lebewesen ein in sich uneiniges, kulturell ziemlich zerrissenes, weit entfernt gelegenes Staatsgebilde dazu, einen Stellvertreterkrieg gegen eine andere, konkurrierende Großmacht in unmittelbarer Nachbarschaft zu führen, beliefert dieses Gebilde in bis dato unvorstellbarem Ausmaß mit Waffen, macht es so zu einem Frontstaat gegen den Großkonkurrenten, um diesen massiv zu schwächen oder gar zu „ruinieren“, wie es heißt, und reiht dabei eine Menge anderer, ebenfalls Waffen liefernder Staatsgebilde in die Front gegen den Rivalen ein. Das funktioniert allein schon deshalb, weil diese Staatsgebilde sich davon – wie die Supermacht selbst – neue Marktzugänge, Reichtumsvorteile, also jede Menge eigenen imperialen Machtzuwachs versprechen. Vorläufiges Ergebnis: Hunderttausende Tote und Verwundete, ein in hohem Maße zerstörter Lebensraum und der ganze Stern bereits zum dritten Mal einem umfassenden Selbstvernichtungskrieg nahe.

Zugleich ist die so bekämpfte Großmacht, auch nach mehreren Kriegsjahren, nur mittel-prächtig geschwächt, aber im Prinzip robust aufgestellt und rückt weiter vor. Als die Stern-Supermacht, ohne die der ganze Krieg nie hätte stattfinden können (wie sie nach einiger Zeit zugibt), ihr tödliches Kriegsprojekt – an dieser Front – zurückstellt und stattdessen lieber mehr mega-profitable Geschäfte auf dem gesamten Stern machen will (zu Lasten und durch noch mehr Erpressung Dritter), statt unproduktiv, teuer und ergebnisoffen zu töten bzw. töten zu lassen, gerät das Heer der bisherigen Verbündeten in Panik. Zum einen militärisch, aber auch ideologisch. Denn die Supermacht mit den größten und gefährlichsten Vernichtungswaffen des gesamten Sterns hat – eingeleitet durch eine TV-Superknall-Veranstaltung – nicht nur ihre Riesenzahl an Superwaffen abrupt der bis dato gemeinsamen Kriegsallianz entzogen, sondern zugleich die eigene Kriegspropaganda wie auch die der kürzlich noch Verbündeten geschreddert, indem sie das gemeinsame Werk schlicht als Lüge offenbart.

Die Folge: Schockstarre bei den Verbündeten! Statt zuzugeben, dass sich der Krieg gegen die konkurrierende Großmacht auch für sie nicht mehr rechnet, dass sie zudem in ihrer selbstproduzierten Kriegspropaganda („Für ‚Werte‘ wird man doch wohl noch töten dürfen“) gefesselt sind, wollen diese von ihrer Supermacht urplötzlich allein gelassenen Verbündeten unbedingt weiter Krieg führen. In der aktuellen Situation sehen sie die riesengroße Chance, endlich aus dem Schatten der bislang verbündeten Supermacht herauszutreten und sich so selbst als militärisch bedeutende Macht ins globale Konkurrenzsystem einzubringen. Sie haben sich, samt dem übergroßen Teil ihrer Bevölkerung, so sehr in die Sache verrannt, dass sie sich nichts anderes mehr vorstellen können, als – egal wie – relevante Konkurrenten zu vernichten und dies exemplarisch an dem konkreten Fall zu beginnen. Sie wollen ihre Wirtschaft, ihre konkurrenzmäßig-aggressiv ausgerichteten Staatskonstruktionen, ja das gesamte Leben in ihren Herrschaftsgebieten dem Kriegszweck unterwerfen. „Whatever it takes“, posaunen sie aus. Und: Sie verlangen, dass sich alle Normalsternenwesen im eigenen Herrschaftsgebiet diesem Plan bedingungslos unterwerfen.

Und was passiert danach? Gibt es Proteste, gar Aufstände gegen den gesteigerten Kriegsfanatismus, gegen das Ausgeliefertwerden (auch der eigenen Familien) an gigantische Kriegsinteressen? Nein. Verbreitet sich Aufklärung darüber, warum vor Jahren der Dauerkrieg wirklich begonnen wurde? Ein vertiefendes Nachdenken über die Mitschuld am Krieg? Auch Nein! Oder etwa ein Nachdenken darüber, ob die eigene, brutal-konkurrenzorientierte Lebensweise in allen Alltagsbereichen mit dem großen Konkurrenzkrieg etwas zu tun haben könnte? Alles Fehlanzeige. Bisher jedenfalls.

Sieht man genauer hin und fragt nach den Ursachen dieses Desasters, dann heißt es bei den alleingelassenen Verbündeten der zuvor haupt-aggressiven Supermacht, das Ganze müsse weitergehen. Denn: 1. verdanke sich das Desaster allein dem kranken Gehirn des feindlichen Großmacht-Anführers. Und 2. habe dieser ja angefangen, nämlich mit einem „Angriffskrieg“ aus „heiterem Himmel“. Von früh bis spät hämmert diese, vorsichtig ausgedrückt, unterkomplexe These durch alle großen Kommunikationsmaschinen und die Alltagswelt der Sternenbewohner auf der einen Seite der Kriegsfront und dringt noch in die kleinste Hütte – so sollen „Zusammenhalt“ hergestellt und der Glaube an ultimativ ausreichende, eigene imperiale Größe beschworen sowie die Bereitschaft zum „Gegenangriff“ unterstrichen werden. Aus „Verantwortung“ für den gesamten Stern, wie es heißt.

Statt nachzuhaken, machen im Hinterland der Front nicht nur sämtliche großen Kommunikationsmaschinen, sondern auch alle möglichen Vor-Ort-Propagandisten und Ortsvorsteher der Sternenbewohner für den Krieg mobil. Ebenso Wissenschaftler, die Lehrerschaft, „Experten“ aller Art etc. Das übrigens auf beiden (!) Kriegsseiten. Genau so, wie es vor den beiden vorhergegangenen, sternumfassenden Vernichtungskriegen der Fall war. Mit genau demselben nationalen, staatsfixierten Fanatismus. Als Wesensmerkmal eines geistig armen Sternentyps, der vor nun finaler Selbstvernichtung steht – aufgrund des Beharrens auf einem irrsinnig konkurrenzorientierten Gegeneinander um überlegene Wirtschaftsmacht, das auf diesem Stern alles bestimmt. Man nennt es dort gemeinhin auch „unsere Art zu leben“.

Von dieser Art wollen die Sternenbewohner einfach nicht lassen, weder jene, die der Supermacht und ihren Verbündeten untergeordnet sind, noch jene im Herrschaftsbereich der feindlichen Großmacht, schon gar nicht jene, die meinen, wenn Aggression und Krieg im Namen von Bevölkerungsumfragen und Mitbestimmungswahlen daherkommen, sei das eine gute Sache, der sich –tautologisch geschlussfolgert – daher alle anderen globalen Experimente des Zusammenlebens einer auf Kreuzchenmachen abgerichteten „Demokratie“, wie diese Form der Mitbestimmung auf dem Stern genannt wird, schlicht fügen müssten. So soll, so „muss“ es einfach sein, ist überall zu hören.

Wie‘s weitergehen wird auf diesem Stern? Ich wage eine Prognose: Noch bevor sie womöglich von Teilen der Sternenbewohner als Wahrheitsverdreher und Kriegstreiber enttarnt werden, schaffen die durch die bisherige Supermacht schlagartig demaskierten Anführer der verbliebenen Kriegsallianz schnell und „mit Blick nach vorn“ neue Tatsachen und führen eventuell blitzartig eine supermachtfreie, aber nichtsdestotrotz gigantische Militär-Aktion gen Osten an, bereiten sie zumindest provokativ vor. Nur so, glauben sie, können sie a) ihren politischen Status sichern und ihre ökonomischen Interessen entscheidend voranbringen sowie b) ihr „Gesicht wahren“ gegenüber zukünftigen potentiellen Feinden und am Ende auch noch vor ihren Untertanen. Womöglich werden dabei – wider Erwarten – die Superwaffen der Sternen-Supermacht eine Weile lang richtig scharf gemacht.

Einzelne Überraschungen sind hier nicht ausgeschlossen. Aber die Titel für solche Monstrositäten stehen schon seit bald 150 Sternenjahren unter der Herrschaft des Konkurrenzprinzips fest: „Verteidigung des Vaterlandes“ wahlweise „Friedensmission“.


„Den Wahnsinn stoppen!“

„Heraus zu Protest und Widerstand – Gegen Krieg, Hochrüstung und Kriegswirtschaft!“ So ein neuer Aufruf aus der „Sagt nein!“-Initiative. Dazu eine Mitteilung der IVA-Redaktion.

„Die Militarisierung Deutschlands schreitet voran. In den Medien wird die Aufrüstung zunehmend als alternativlos dargestellt.“ So heißt es in einem Kommentar bei Telepolis, der die Formierung der hiesigen Öffentlichkeit in Sachen Kriegsertüchtigung und Aufrüstung auf den Punkt bringt. IVA hatte dazu schon im Februar, vor der Bundestagswahl, ein eigenes Flugblatt „Gegen Kriegstüchtigkeit!“ veröffentlicht, das Einspruch gegen diesen nationalen wie europäischen Trend einlegte und auf die – noch – vorhandenen Protestmöglichkeiten der Gegenöffentlichkeit aufmerksam machte.

Eine Gegenbewegung gibt es auch in den deutschen Gewerkschaften, deren Führung ansonsten den Aufrüstungskurs der alten wie der neuen Regierung unterstützt und von einem Widerstand gegen die auf Hochtouren laufende Kriegsvorbereitung nichts wissen will. Kritische Stimmen fand man aber bereits vor der Eskalation seit Maidan-Putsch und gescheitertem Minsk-Abkommen beim Gewerkschaftsforum Dortmund oder beim GEW-Magazin Ansbach. Ende Juli 2023 startete dann die oppositionelle Initiative „Sagt nein! – Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“.

Für ein „unüberhörbares und unübersehbares Nein“

Die Initiative wurde vor allem von Mitgliedern der DGB-Gewerkschaft Ver.di ins Leben gerufen und von verschiedenen Gruppierungen und Sympathisanten unterstützt. Sie legte einen Aufruf vor, der bisher von rund 20.000 Personen unterschrieben wurde, und konnte sich auch – wie IVA berichtete – beim Ver.di-Bundeskongress im September 2023 zu Wort melden. Nachdem der DGB-Bundeskongress 2022 auf Betreiben des Bundesvorstandes sein Ja zu Waffenlieferungen und Aufrüstung abgeliefert hatte, stand auch bei Ver.di die Einreihung in die NATO-Front an. Unter dem Deckmantel eines „umfassenden Sicherheitsbegriffs“, so kritisierte der Aufruf, sollten sich Gewerkschaftsmitglieder als Jasager zur neuen Kriegslogik bekennen. Verhindert werden konnten die Anträge der Gewerkschaftsführung nicht, aber es gelang, eine deutliche Protestposition in der Gewerkschaft öffentlich zu machen.

Mittlerweile gibt es weitere kritische Gewerkschaftsinitiativen und zuletzt hat „Sagt nein!“ – gemeinsam mit anderen oppositionellen Stimmen vorwiegend aus dem antikapitalistischen Lager – besagten Aufruf „Gegen Krieg, Hochrüstung und Kriegswirtschaft!“ veröffentlicht. Das Flugblatt steht hier zum Download bereit. Es ruft zur Teilnahme an der zentralen Friedens-Demonstration am 29. März 2025 in Wiesbaden auf und fordert, dass die diesjährigen Ostermärsche (in der Zeit vom 17.-21. April) „zu unüberhörbaren Manifestationen gegen den globalen Krieg und die weiteren Kriegspläne der Herrschenden werden“. Auch sollte der internationale Kampftag der Arbeiterklasse am 1. Mai und der 80. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus am 8. Mai für ein „Fanal gegen Krieg, Militarismus, Burgfrieden und Faschismus“ genutzt werden.

Die Demonstration in Wiesbaden gegen neue US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland findet am Samstag, dem 29. März, statt. Die Auftaktkundgebung erfolgt um 12.00 Uhr am Wiesbadener Hauptbahnhof. Nach einem Demonstrationszug durch die Stadt soll gegen 14.30 Uhr die Abschlusskundgebung auf dem Kranzplatz stattfinden. Näheres findet man über den Link der Wiesbadener Organisatoren. Die Termine der verschiedenen Ostermärsche finden sich auf der Website der Friedenskooperative.

Der Aufruf von „Sagt nein!“ wird bundesweit verbreitet. Er formuliert erstens den Einspruch gegen den offiziellen Kriegs(vorbereitungs)kurs und erhebt in einem zweiten Teil unter der Überschrift „Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen“ eine Reihe von Forderungen. Diese beginnen mit dem sofortigen Stopp der „Verteilungskriege der imperialistischen Mächte“ und schließen mit dem „Verbot aller faschistischen Organisationen und ihrer Propaganda“. Dazu hier zwei Anmerkungen.

Kapitalisten sind nicht geil auf Krieg, sondern auf Profit.

„Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen“ so lautete John Heartfields berühmte Fotomontage in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) von 1932, die jetzt im neuen Flugblatt mit Bild und Text wieder abgedruckt ist. So verdienstvoll die Antikriegsagitation der damaligen kommunistischen Presse auch sein mag und wie sehr man zudem die Leistung der Heartfield-Brüder loben mag (dass sie den Dadaismus in AgitProp transformierten und damit dem künstlerischen Avantgardismus zu seiner wahren Bestimmung verhalfen) – stimmen tut die Losung leider nicht. Das Kapital ist nicht geil auf Kriege. Es sei denn, man verfällt auf die abwegige Idee, nur die Rüstungsindustrie anzuklagen, die sich auf Kosten ihrer Kollegen aus anderen Kapitalbranchen vordränge, um bei staatlichen Aufträgen abzusahnen. Eine Vorstellung, die sich gerade an den europäischen Aufrüstungsbemühungen und ihren einschlägigen Kontroversen blamiert: Hier soll ja die Rüstungsindustrie erst geschaffen werden, die EU-Staatschefs wollen dafür alles in die Wege leiten und besonders darauf achten, dass nicht gleich wieder 50 % der gestemmten Summen für Einkäufe bei der US-Industrie ausgegeben werden. Das ist ja gerade das Leiden der deutschen und europäischen Politik, dass sie die machtvolle Rüstungsbranche, die ihr dann die Aufträge „diktiert“, nicht hat.

Grundsätzlich gesagt: Das Kapital ist interessiert an Profit, nicht an der Zerstörung von menschlichen und sachlichen Ressourcen. Es gibt keine Kriege in Auftrag, diese sind vielmehr das Werk einer Machtkonkurrenz von Staaten, die jeweils ihren Kapitalismus betreuen. Gerade Trump liefert hier ein aktuelles Beispiel. Er kommt bei Gelegenheit – wenn das Zerstörungswerk des Militärs die Schädigung der gegnerischen Macht in ausreichendem Maße zustande gebracht hat – geradezu mit imperialistischem Geschäftssinn daher, der Friedensschalmeien anstimmt und die Rücksichtslosigkeit eines ukrainischen Nationalisten bloßstellt. Dieser begnadete „Dealmaker“ kann dann sogar als Warner vor einem dritten Weltkrieg auftreten, der den Weg zum friedlich-schiedlichen Handelsverkehr weist!

Demokraten können Faschisten verbieten, mehr nicht.

Die marxistische Kritik, so der Politikwissenschaftler Reinhard Kühnl, besteht darauf, dass Demokratie und Faschismus zwei „Formen bürgerlicher Herrschaft“ sind, dass sie also eine Gemeinsamkeit in ihrer politökonomischen Grundlage haben, auf deren Herrschaftsbedarf sie sich beziehen. D.h., sie bieten sich als Alternativen an und setzen sich, je nachdem per Wahlzettel, machtvoller Bewegung und/oder auswärtiger Protektion, als politisches Programm durch. Gemeinsam ist ihnen die Sorge um den Erfolg der Nation auf kapitalistischer Grundlage und je drängender die nationale Notlage ist, desto mehr kommen im demokratischen Alltag die faschistischen Ideale zum Zuge: starke Führung, klares Feindbild, Schutz der Volksgemeinschaft vor Ausland & Ausländern und vor allgemeiner Sittenlosigkeit – schlussendlich alle Potenzen in einer wehrhaften, kriegsbereiten Nation zusammengeschlossen. Daher haben Marxisten immer wieder betont, dass Demokraten Faschisten nur verbieten, aber nicht kritisieren können. Ein Lehrstück in dieser Hinsicht lieferten gerade die letzten Auseinandersetzungen um die demokratische Brandmauer gegenüber der AfD: In der Sache, dem Kampf gegen „irreguläre Migration“, herrschte größte Einigkeit der Mitte mit den Rechten. Hier wird nur aus wahltaktischen Überlegungen ein Gegensatz stilisiert, den man aber auch fallweise – siehe die Merz-Initiative im Wahlkampf – hintanstellt. Ähnliches war vorher schon bei den durch Correctiv enthüllten, angeblich geheimen „Remigrations“-Plänen der AfD zu beobachten, wo es vor allem darum ging, eine störende Alternative im demokratischen Betrieb auszuschalten (vgl. IVA Texte Februar 2025).

Wenn das Flugblatt jetzt das Verbot „aller faschistischen Organisationen“ fordert, fragt man sich, an wen sich diese Forderung wendet. An die demokratische Obrigkeit, damit sie Weidel und Co. in die Wüste schickt? Richtet man sich also an die Macht, die gerade die gigantische Aufrüstung betreibt, Widerspruch nicht duldet und der es sicher sehr gelegen käme, wenn man rechtspopulistische Querschläger aus dem Weg räumen könnte? Also Vertreter eines dissidenten Standpunkts mundtot machte, die ähnlich wie Trump Geschäftsaussichten mit dem russischen „Partner“ ins Auge fassen und deswegen bei Gelegenheit sogar das gängige antirussische Feindbild in Frage stellen. Gegen diese Störenfriede soll der Antikriegsprotest die staatliche Macht anrufen, damit sie rücksichtslos zuschlägt und noch mehr „Propaganda“-Verbote erlässt?

***

Dies nur als Hinweis darauf, dass bei dem jetzt vorliegenden Aufruf – verständlicher Weise, denn so werden Bündnisse geschmiedet – Positionen vorkommen, die nicht von allen Unterzeichnern und Unterzeichnerinnen geteilt werden, ja die ins Feld neuer Kontroversen führen. Das muss kein Schaden sein. Diese Kontroversen auszutragen im Kreis derjenigen, die eine antiimperialistische Kriegskritik befördern wollen, und in der Auseinandersetzung mit anderen friedensbewegten Positionen, die an die „eigentlich“ vorhandene Friedensfähigkeit und -willigkeit der Regierenden appellieren, ist gerade das Angebot, das ein solcher entschiedener Einspruch gegen den militaristischen „Wahnsinn“ machen kann.

Natürlich macht man sich nicht mit rechten Positionen gemein, die möglicherweise jetzt auch auf Verhandlungsfrieden und Diplomatie setzen. Aber da, wo man sich gegen Aufrüstung und Militarisierung positioniert, besteht diese Gefahr gar nicht. Einer Partei wie der AfD ist der Aufbau Deutschlands zu einer militärischen Führungsmacht ja hochwillkommen. Weil sie aber den eingespielten Politbetrieb der BRD stört, wird sie mit ihrer „Propaganda“ als extremistisch ausgegrenzt (siehe dazu auch Renate Dillmanns Beitrag „Der rechte Kampf für Wahrheit und Freiheit“ in: Konkret, 3/25). Sich in der deutschen Gegenöffentlichkeit daher noch mehr Verbote zu wünschen, wäre in der Tat fatal.


Ein Rückblick zur Bundestagswahl

Johannes Schillo und Renate Dillmann haben am 23. Februar im Overton-Magazin Impressionen & Reflexionen zum Wahltag beigesteuert.

„Juchhu, wir dürfen wieder wählen!“ So hieß es im Overton-Magazin nach dem Bruch der Ampelkoalition und im Blick auf die drohende Sternstunde der Demokratie. Jetzt ist sie vorbei und der Alltag hat uns wieder. Bis auf Hamburg natürlich, wo die Bürgerschaftswahl ansteht und die Presse sich Sorgen macht: Kann die AfD ihr altes Ergebnis verdoppeln? Muss die FDP wieder draußen bleiben? Etc.

Aber wir wollen nicht vorgreifen, sondern hier nur zwei Statements zur Erinnerung an den großen Tag der Republik nachtragen, als bei Overton Stimmen aus der Gegenöffentlichkeit den Verlauf der Bundestagswahl kommentieren sollten.

Noch unentschlossen am Wahltag

Sonntagvormittag, die Wahllokale öffnen, ich muss mit dem Hund raus und an den vielen tollen Plakaten vorbei: Tja, „Betrug am Wähler“, ein „großes Täuschungsmanöver“, so Professor Butterwegge in seiner Analyse bei Telepolis. Die Analyse hat er mittlerweile mit einem dritten Teil abgeschlossen – und er bleibt dabei: „Mit Täuschung zum Triumph“. Die Durchsicht der Wahlparolen, die Björn Hendrig vorher geliefert hatte, machte auch nicht viel Lust aufs Wählen. „Die Kunst des schönen Versprechens“ bringe Wahlplakate hervor, die sich als „kommunikative Schrotflinte“ bewähren: „Irgendeinen wird die Botschaft schon treffen. Da kann man sich noch so sehr wegducken, übersehen geht nicht.“

Aber die bunte Bildergalerie hat jetzt ausgedient und der Worte sind genug gewechselt – das Wahlvolk schreitet zur Abrechnung. „Das Gute an dem kurzen Wahlkampf ist, dass er vorbei ist“, kommentiert die FAZ am Wahlwochenende im Wirtschaftsteil. Sie beklagt die „Lähmung“ des Standorts, wo sich nur „kleine Lichtblicke“ zeigen und wo das Wahlergebnis unter Umständen wieder in eine „bleierne Zeit“ führen könnte. Ich fürchte mich auch vor den bleihaltigen Zeiten, die auf uns zukommen, und darf Derartiges noch in der Gegenöffentlichkeit äußern. Im wahlwerbenden Schilderwald entdecke ich sogar einen Lichtblick, nämlich das Plakat der Titanic-Partei: „Kein Weltkrieg ohne Deutschland“. Endlich mal keine Täuschung! Das ist der Konsens aller staatstragenden Kräfte und somit ein Wahlversprechen, das sicher eingehalten wird – koste es, was es wolle, und sei es die Hälfte des Bundeshaushalts. Darauf haben wir ein großes schwarzrotgoldenes Ehrenwort bekommen.

Demokratische Sternstunde

Sonntagabend, 18 Uhr – die Wahllokale schließen. Nun haben sie also gewählt, der Wähler und die Wählerin bzw. „der Souverän“. Sie haben es einen ganzen Tag lang in der Hand gehabt: ihren Wahlzettel. Die Parteien und ihre Kandidaten haben vor ihnen und dem donnernden Votum gezittert und sich dafür im Wahlkampf mit guten Argumenten und sachlich-aufklärenden Diskussionen überboten. Nun ja – so ähnlich jedenfalls soll man sich die Demokratie vorstellen.

Nun sitzen der Wähler und die Wählerin vor dem Fernseher und dürfen zusehen, was die Parteien unter Berufung auf die zusammengezählten Kreuzchen in ihrer Konkurrenz um die Verteilung der Macht anstellen. Und welche angebliche Erwartungshaltung „des Wahlvolks“ bezüglich Krieg und Frieden, Migration, Sozialpolitik undsoweiter die Medienexperten in die Millionen von Kreuzchen hineininterpretieren, wenn sie mit den Kandidaten talken.

Das war sie dann – die demokratische „Sternstunde“. Außerhalb dieser großen Stunde, d.h. die nächsten vier Jahre lang und in allem, was ihn praktisch betrifft, hat „der Souverän“ nichts zu melden. Er muss schlicht dem nachkommen, was die gewählte bzw. durch Koalitionsverhandlungen ausgemauschelte Regierung an Gesetzen oder Verordnungen beschlossen hat. Seine demokratische Rolle in dieser Zeit: Nichts, nada, niente oder besser: gehorchen.

Und was hatte er in seiner großen Stunde (besser gesagt den fünf Minuten in der Wahlkabine) eigentlich zu sagen? Konnte er, der „Souverän“, „seinen“ Abgeordneten mit auf den Weg geben, was er braucht oder was ihm gegen den Strich geht? Dass er vielleicht gerne eine Welt ohne versaute Lebensmittel, allgegenwärtigen Verkehrslärm, ein Gesundheitssystem, dem man nicht trauen kann, und jetzt auch noch einen Krieg hätte? Durfte er wenigstens ein paar Dinge aufschreiben, die die Welt für ihn „ein kleines bisschen besser machen würden“?

Nein, das durfte der Wähler natürlich nicht. Jede Aussage – vom bescheidensten kleinen Wunsch bis hin zur Systemkritik – hätte seine Stimme ungültig gemacht. Seine Wahl bestand allein in einem kleinen Kreuzchen. Und damit darin, eine Partei ins Parlament und darüber möglicherweise einen Politiker, eine Politikerin ins Amt zu bringen, die ihm in den nächsten vier Jahren sagen darf, wo es langgeht in Deutschland. Wo an ihm gespart werden muss, damit das Geschäft der Unternehmen und Banken wieder auf die Beine kommt und die Bundeswehr ihre Aufrüstung hinkriegt.

Das allerdings unter Berufung auf ihn – den Wähler! Und nicht zu vergessen natürlich: die Wählerin.

P.S.

Wer dreieinhalb Stunden Zeit hat, kann sich das demokratische Highlight des Jahres 2025 auch noch mal ausführlicher zu Gemüte führen, und zwar mit einem Schuss Senf, den das „Trio Infernal“ von 99zu1 beigesteuert hat: „Nach der Wahl...“ als Episode 478 der Videopodcastreihe auf YouTube anzuschauen.

Eine knappe Information bietet dagegen der Videopodcast „Wohlstand für alle“ von Ole Nymoen und Martin M. Schmitt, und zwar zur Rolle der Wahl im Rahmen demokratischer Herrschaft. Die Episode 291 vom 5. März steht unter der Fragestellung „Ist Wählen verkehrt?“ und diskutiert die Demokratie-Kritik des GegenStandpunkts.


Februar

„Die Nicht-Klimawahl“

Noch ein Flugblatt zum Wahlkampf, die Meisterleistung betreffend, die globale Katastrophe des Klimawandels auszuklammern. Eine Information der IVA-Redaktion.

„Es hat sich etwas geändert seit der letzten Bundestagswahl. Klang es 2021 noch halbwegs plausibel, von einer ‚Klimawahl‘ zu sprechen, so spielt jetzt das Klima im Wahlkampf keine Rolle mehr“. Das schreibt Rudolf Netzsch in einem Flugblatt, das im Wahlkampf verteilt wurde und weiterhin Interessenten für Verteilaktionen zur Verfügung steht. „Dabei stellt keine der Parteien“, wie das Flugblatt fortfährt, „den Klimawandel in Abrede … Teile der AfD vielleicht ausgenommen“. Doch auch die AfD sieht energiepolitischen Handlungsbedarf. Wie Kanzlerkandidatin Alice Weidel jetzt im Bild-Interview (16.2.25) mitteilt, will ihre Partei „das Erneuerbare Energien Gesetz, das EEG, abschaffen, das uns bisher rund 500 Milliarden Euro gekostet hat“. Eine Energiewende wird aber nicht ausgeschlossen, „Zielbild ist, dass wir das Energieangebot ausweiten. Wir stehen für Energieoffenheit, für Marktwirtschaft auch am Energiemarkt“ (Weidel).

Damit reiht sich die AfD im Grunde in den demokratischen Parteienkonsens ein, der ökologischen Erfordernissen im Rahmen des ökonomisch Machbaren nachkommen will. Die Lage ist also jetzt, wo das Wahlvolk befragt und auf die großen Politthemen aufmerksam gemacht wird, genau so, wie sie Netzsch in seinem Buch über den Umweltprotest gefasst hat (siehe die Vorstellung bei IVA): Die Klimakatastrophe ist laut sämtlichen sachkundigen Dia- und Prognosen unterwegs und auch in internationalen Vereinbarungen als erstrangiges Menschheitsproblem anerkannt; die Konsequenz, die die Staatenwelt daraus zieht, ist aber im Grunde nichts anderes als business as usual, also Schutz des kapitalistischen Geschäftslebens vor allzu großen Kostenbelastungen.

Ein Nicht-Thema findet seinen Platz

So ähnlich sehen das auch sachkundige Wahlbeobachter. Ein Monat vor dem Wahltag legte z.B. die Bundeszentrale für politische Bildung ihre „Informationen“ zur Wahl vor, in denen sich Politik-Professor Frank Decker zu den großen Themen des Wahlkampfs äußerte. An erster Stelle stünden hier „Wirtschaft und Soziales (einschließlich Klimaschutz)“ und an zweiter der russische Krieg in der Ukraine – eine erstaunliche Fehleinschätzung! (Siehe IVA-Texte2025) Einerseits jedenfalls. Andererseits hat der Mann ja recht, Klimaschutz eingeklammert unter Wirtschaft (und Soziales), genau so kommt das Thema vor und wird als eigenes globales Problem, das „uns“ bewegt, ausgeklammert.

Denn angeblich, das hört man von wohlmeinenden Stimmen, könnte man die Leute nicht mit Plänen zu einem energiepolitischen Umbau verschrecken, der viel Geld kostet und von „uns allen“ Einschränkungen verlangt; das wären Zumutungen, die der Wähler niemals akzeptieren würde. Als ob nicht die ganze Zeit von Zumutungen die Rede wäre, die demnächst auf den Bürger zukommen! Allen Ernstes wird ja diskutiert, ob man 40 % des Bundeshaushalts für Rüstung ausgeben kann und an welchen anderen Stellen (natürlich vor allem beim Sozialen) wie viel dafür zu kürzen wäre. „Das Prinzip staatlichen Handelns ist“ eben, heißt es im Flugblatt, „die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, und die kennt keine Rücksichtnahme, weder auf Land noch auf Leute. Denn diese Ordnung, also der Kapitalismus, verträgt sich nicht mit Klimaschutz, sondern führt mit gesetzmäßiger Notwendigkeit in die Katastrophe. – Wann hat denn der grüne Wirtschaftsminister aufgehört, zugleich einen Klimaschutzminister darzustellen? Genau: als die Konjunktur einzubrechen drohte, also als sich Schwierigkeiten für die kapitalistische Wirtschaft ergaben.“

Weitere Informationen zu dem Thema bietet Rudolf Netzsch jetzt auf einer eigenen Website an: „Nachdenken über Klima und Zeitgeist“ (https://www.rudi-netzsch.de/). Dort wird die Publikation „Nicht nur das Klima spielt verrückt – Über das geistige Klima in der heutigen Gesellschaft und die fatalen Folgen für das wirkliche Klima der Welt“ vorgestellt und dazu auf weitere Texte des Autors oder damit verbundene Veröffentlichungen verwiesen. Netzsch setzt sich in seinem Buch auch mit den verbreiteten ohnmächtigen Klagen auseinander, in Sachen Umweltschutz würde zu wenig geschehen. Immer wieder werden ja Verfehlungen oder Versäumnisse Einzelner beklagt – sei es der Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik, sei es von uns allen. „Unter solch einer Perspektive scheint es keinen anderen Ausweg zu geben, als Appelle an den Staat als den Repräsentanten der abstrakten Allgemeinheit zu richten. Um darüber hinauszukommen, wird in dem Buch dafür plädiert, das Handeln der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu begreifen und die stummen Zwänge der Verhältnisse als das zu erkennen, was zu überwinden ist. Auf dieser Grundlage werden auch verschiedene linke Positionen dazu kritisch diskutiert.“

Auf der Website gibt es die Möglichkeit zum Download (https://www.rudi-netzsch.de/blog-zum-buch/flugblatt-zum-klimastreik-am-14022025) des aktuellen Flugblatts sowie früherer Flugblätter. Der Autor ist auch in einem Videopodcast zur Kritik der Klimabewegung bei 99zu1 aufgetreten: https://www.youtube.com/watch?v=yLw4j9RZcfs. Auf der Website finden sich ferner aktuelle Texte zum „Geistigen Klima“ und es gibt die Möglichkeit, Kommentare beizusteuern oder Anfragen an den Autor zu richten.


Gegen Kriegstüchtigkeit!

Ein Flugblatt informiert über kritische Stimmen zum neudeutschen Leitbild Kriegstüchtigkeit. Dazu eine Information der IVA-Redaktion.

Deutschland steht im Zeichen von Kriegstüchtigkeit und Kriegsvorbereitung – auch wenn der Wahlkampf das Thema großzügig ausklammert und noch gar nicht klar ist, in welcher Konstellation nach dem Amtsantritt von Donald Trump und nach der Bundestagswahl die großartige westliche Waffenbrüderschaft fortgesetzt wird. Eins steht aber fest: Friedlich wird es auf dem Globus nicht. Der neue US-Verteidigungsminister Hegseth kündigt bei seinem Europabesuch an, er werde die NATO „aus einem ‚diplomatischen Club‘ zu einer ‚tödlicheren Kraft‘ machen“ (Junge Welt, 13.2.25). Und dass Europa eine veritable Militärmacht werden soll – Verteidigungsausgaben in Höhe von 5 % des Bruttoinlandsprodukt werden verlangt –, gehört mit zur Neubestimmung des transatlantischen Verhältnisses.

IVA hat bereits mehrfach auf den Prozess der umfassenden Militarisierung aufmerksam gemacht, der neben der geistig-moralischen Aufrüstung natürlich die militärischen Mittel und politischen Weichenstellungen betrifft und der der Nation einiges abverlangt. Bei aller Führung des westlichen Lagers durch die „einzig verbliebene Supermacht“ USA ist hier festzuhalten, dass die BRD sich ebenfalls Führung zutraut und für sich und für die EU die Rolle eines Hegemons in Anspruch nimmt, der auf dem europäischen Kontinent für die Ausschaltung einer russischen Großmacht sorgt.

Die Karriere eines Frontstaats

Dieser Aufbruch zu neuen Ufern hat natürlich seine Tradition. Vor 75 Jahren, unterm CDU-Kanzler Konrad Adenauer, wurde die Remilitarisierung der BRD in die Wege geleitet. Eine kriegsmüde Nation wurde innerhalb von fünf Jahren auf die Rolle eines Frontstaates umgestellt, der der östlichen Großmacht SU – natürlich im Bund mit den NATO-Spießgesellen und unter Führung des US-Hegemons – Paroli bieten sollte.

Vor gut 45 Jahren forcierte der sozialdemokratische Kanzler Helmut Schmidt die atomare Aufrüstung Westeuropas, die als „Nachrüstungs“-Bedarf firmierte und u.a. beim Juso-Chef Scholz auf Protest stieß: Bei ihm und der damaligen machtvollen Friedensbewegung kam der Verdacht auf, der US-Imperialismus (miss-)brauche Europa als – letztlich: atomares – Schlachtfeld zur Ausschaltung seines realsozialistischen Rivalen und zur Mehrung seiner eigenen Macht.

Vor gut 25 Jahren beteiligte sich dann der SPD-Kanzler Gerhard Schröder mit seinen grünen Koalitions-Kumpanen an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Serbien, um in die Regelung der regelbasierten US-Weltordnung die gewachsenen Ansprüche eines wiedervereinigten Deutschlands einzubringen. Denn nach der Kapitulation des Systemrivalen unter Gorbatschow stand der ehemalige Ostblock zur Inbesitznahme offen: Von der Zerlegung des Balkans bis zur mehr oder weniger friedlichen NATO-Osterweiterung rückte man der – unter Putin wieder stabilisierten – östlichen Macht auf die Pelle, die sich nicht mit der ihr zugewiesenen Rolle als „Regionalmacht“ (Obama) abfinden wollte.

­Als nun vor drei Jahren die Russische Föderation auf die westliche Einkreisung mit einem Gegenschlag antwortete, begann die letzte Phase der deutschen Militarisierung. Der seit Beginn der Republik vorhandene politische Wille, Russland als Großmacht zu beseitigen und das auch – wenn der Feind sich nicht durch seine westlichen Gegner abschrecken lässt – mit einem Atomkrieg zu realisieren, schreitet jetzt zur Tat.

Und so fasst zuletzt Kanzler Scholz im Sommer 2024 gemeinsam mit der US-Regierung den Beschluss zu einer Stationierung von (eventuell auch atomar bestückbaren) Raketen in Deutschland, die „über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen“ (so die bilaterale Erklärung), also die Option eines Enthauptungsschlags aus der Nachrüstungsära wieder ins Spiel bringen. Und die nukleare Teilhabe der BRD wird ja sowieso ständig mit den US-Freunden geübt, die jetzt unter Trump bekanntgeben, wie prinzipiell feindlich sie allen anderen Nationalinteressen gegenüberstehen, und damit das deutscheuropäische Verlangen nach massiver Aufrüstung umso dringlicher machen.

Widerspruch aus der Gegenöffentlichkeit

Wie gesagt, die aktuelle Entwicklung seit den Präsidentschaftswahlen in den USA mischt jetzt die geopolitischen Kalkulationen der NATO-Mitglieder auf. Der Wille zum Krieg leidet darunter aber nicht, im Gegenteil. Das Programm, das Volk für die gi­gantische Aufrüstung in Form zu bringen und bluten zu lassen, ist Konsens bei den Verantwortlichen und denen, die Verantwortung übernehmen wollen. „Kanonen statt Butter“ heißt unver­blümt die Devise. Militärische „Resilienz“ ist das offizielle (Um-)Erziehungsziel.

Öffentlichen Einspruch gibt es aber – noch. Unter anderem von der etwas schwer bestimmbaren Größe „Gegenöffentlichkeit“, die mit den verschiedensten (An-)Klagen aufwartet, die aber in Sachen Antikriegsprotest eine wichtige Aufklärungsleistung beisteuert. IVA als Initiative zur Verbreitung von Aufklärung beteiligt sich an dieser Öffentlichkeitsarbeit, übernimmt kritische Beiträge oder veröffentlicht eigene Stellungnahmen. Um etwas in der Hand zu haben, wenn man bei Veranstaltungen der Friedensbewegung oder demnächst bei den Ostermärschen aufkreuzt, hat die IVA-Redaktion ein Flugblatt erstellt, das hier (Flyer IVA) abrufbar ist. Es steht unter der Überschrift „Gegen Kriegstüchtigkeit! Gegen die deutschen Hassprediger, die die Zivilgesellschaft mit Militarismus beglücken wollen!“ und gibt eine Übersicht zu Veröffentlichungen, Diskussions- und Veranstaltungsangebo­ten und will Interessenten helfen, Kontakte zu knüpfen und sich zu vernetzen.


Ein Stelldichein am „Tor zur Hölle“

Noch was zur Brandmauer. Ein Nachtrag zum letzten Beitrag über den Bundestagswahlkampf von Johannes Schillo.

„Aufstand der Anständigen – Demo für die Brandmauer“: Bundesweite Demonstrationen gegen Rechtsextremismus meldet die Tagesschau (tagesschau.de, 3.2.24). Ausgelöst durch „die von der Union initiierte Migrationsdebatte im Bundestag“ sollen sich laut Angaben der Veranstalter bis zu 250.000 Demo-Teilnehmer in Berlin, Köln, Bonn und anderen Städten eingefunden haben. Wie Anfang 2024, als das angebliche Potsdamer Geheimtreffen aufgeflogen war und gar nicht so geheime Pläne zur Begrenzung irregulärer Migration bekannt wurden (die im Grunde alle Parteien bis auf Linke teilen), ist also wieder ein antifaschistischer Aufschwung im Lande zu verzeichnen.

Wieder heißt es: „Den Anfängen wehren!“ Dazu kommentierte der Gegenstandpunkt bereits Anfang 2024 (Decker 2024, 85): „Welchen Anfängen? Wer gegen die schlechte Behandlung von Migranten ist, kann doch nicht erst bei der AfD anfangen. Und schon gar nicht für die Demokratie eintreten, die es in Deutschland gibt. Die ist mit ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik doch selbst der Anfang und eigentlich längst nicht nur der Anfang dessen, was schon jetzt, und zwar programmatisch, mit Deportationen endet: ‚Wir müssen endlich im großen Stil abschieben‘, sagt der demokratische Kanzler.“

Nach den Amoktaten von Solingen bis Aschaffenburg haben alle staatstragenden Kräfte diese Ansage bekräftigt – in der Sache knallhart, in der Tonlage mit einer gewissen Bandbreite von Bild bis zum hinterletzten Lokalblatt –, und mit dem Vorstoß des CDU-Kanzlerkandidaten Merz ist nun offiziell klargestellt: Die Brandmauer, die Demokraten fundamental von Rechtspopulisten und Rechtsradikalen trennen soll, gibt es in der Sache nicht. Sie muss künstlich hergestellt bzw. aufrecht erhalten werden. Sie verdankt sich einem parteitaktischen Kalkül, das einmal Abgrenzung verlangt, das andere Mal gemeinsames Vorgehen zulässt – natürlich alles nur, um dem Mehrheitswillen der Bevölkerung gerecht zu werden. Eine aufschlussreiche Lektion über faschistische Standpunkte, die mitten in der Demokratie hausen! Doch was sagen die maßgeblichen Volkserzieher dazu?

Gemeinsame Grundlagen

Explizit in Frage gestellt wurde die AfD-Ausgrenzungsstrategie in christdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen zwar schon seit einiger Zeit. Aber jetzt erst, so erfährt man von Experten, soll die Gefahr drohen, dass der Rechtsradikalismus salonfähig wird. In konservativen Kreisen sieht man das etwas anders. Die FAZ konstatiert dabei auf ihre Weise, dass es die Brandmauer, also den fundamentalen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und ihren populistischen Rivalen, allen voran der AfD, eigentlich nicht gibt. Die rotgrüne Distanzierung vom Merz-Vorstoß, schreibt die „Zeitung für Deutschland“, verdanke sich ideologischer Borniertheit, die Polemik gegen das Wort „Begrenzung“ (vor einem Jahr war es der Terminus „Remigration“) sei in der Sache unbegründet. Es habe hier ja schon alles Mögliche mit SPD-Beteiligung gegeben – „wie die Aussetzung des Familiennachzugs“; und es ginge ja nur um pragmatische Dinge „wie ein größerer Aktionsradius für die Bundespolizei. Warum die SPD da nicht zustimmt, ist unbegreiflich. Nur das Argument, die Union mache gemeinsame Sache mit der AfD wäre ihr flöten gegangen. Aber ebendarum, um das ‚Tor zur Hölle‘, wie es Rolf Mützenich in geradezu grotesker Übertreibung nannte, ging es SPD und Grünen von Anfang an.“ (FAZ, 1.2.25)

Einen Beleg für den fiktiven Charakter der Brandmauer hat jüngst die Historikerin Daniela Rüther [1] mit ihrer Studie über „Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im ‚Genderwahn‘“ (2025) geliefert. Es geht hier um die Polemik, die Rechtsradikale und Rechtspopulisten in Verbindung bzw. Übereinstimmung mit konservativen Kreisen gegen einen „Genderwahn“ der progressiven Kräfte betreiben. In der „Genderideologie“ sehen ja Rechte von Meloni bis Trump, aber auch Wertkonservative und christliche Traditionalisten den Angriff auf die nationalen Höchstwerte von Heimat, Familie und Gottesfurcht. Das traditionelle Familienmodell sei dagegen allein geeignet, die völkische Reproduktion sicherzustellen. Familienpolitik ist explizit Bevölkerungspolitik, die gegen das Aussterben des deutschen Volkes antreten muss. Und das will eine konservative Familienpolitik verhindern, wobei die AfD durchaus zu Modernisierungen bereit ist. Sie bekennt sich ja auch schon seit einiger Zeit zum Schutz von Homosexuellen, Transpersonen oder Frauen, die von sexueller Gewalt (natürlich durch Ausländer!) bedroht sind (vgl. dazu etwa den von Judith Goetz und Thorsten Mense herausgegeben Band „Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“, 2024).

Der Antifaschismus der Anständigen

Was man zu der jetzt öffentlich gemachten Brandmauer-Fiktion von den zuständigen Fachleuten hört, ist ansonsten wenig aufklärend. Ein Monat vor dem Wahltag legte – wie jedesmal bei solchen Anlässen – die Bundeszentrale für politische Bildung ihre „Informationen“ zur Wahl vor (bpb 2025). Der Autor, Politikprofessor Frank Decker, konnte natürlich Anfang des Jahres noch nicht wissen, dass der CDU-Kandidat mit seiner „Begrenzungs“-Initiative einen „Dammbruch“ einleiten würde, aber sonst waren, wie oben dargelegt, alle einschlägigen Informationen über die gemeinsamen Grundlagen bekannt. Dazu gab es ja auch in der politischen Öffentlichkeit immer wieder eindeutige Hinweise – sofern sich die Medien dafür interessierten und nicht, wie nach der Entlarvung des angeblichen Potsdamer „Geheimtreffens“, die Rechtspopulisten aus der demokratischen Gemeinschaft ausgrenzten, weil sie Pläne für eine ethnische Säuberung von NS-Format in den Schubladen hätten.

An der Dramatisierung des Migrationsproblems ‚nach Solingen‘ hätte man den ausländerfeindlichen Grundtenor des beginnenden Wahlkampfs unschwer erkennen können. Dass man die (irreguläre) Migration – noch vor Weltkriegsgefahr, Klimawandel, weltweiter, auch einheimischer Verelendung und Prekarisierung, die jetzt sogar unseren Wohlfahrtsstaat zum Abbau eines überzogenen Leistungskatalogs zwingt – als den eigentlichen Notstand betrachten soll, der alle betrifft, hat natürlich seine Wahlkampflogik (siehe unten den ersten IVA-Beitrag zur Brandmauer).

Was Decker dazu in den Informationen der Bundeszentrale zu vermelden hat, ist ein ziemlicher Fehlgriff. Klar sei, dass „die demokratischen Parteien der Mitte die Koalitions- und Regierungsbildung unter sich ausmachen“ würden. „Gänzlich Tabu ist für alle Parteien (mit gewissen Einschränkungen beim BSW) jedwede Zusammenarbeit mit der AfD.“ Da wundert es nicht, was der Mann zu den großen Themen des Wahlkampfs zu sagen hat. An erster Stelle stünden hier Wirtschaft und Soziales (einschließlich Klimaschutz), an zweiter der russische Krieg in der Ukraine. Natürlich kommt das alles in den Wahlprogrammen vor, sogar der Evergreen Bürokratieabbau hat hier seinen Platz. Aber die Rangfolge sieht bekanntlich anders aus.

Das Thema Migration wird von Decker am Ende auch noch aufgeführt. Hier sieht er eine Front, die zwischen den „linken Parteien“ (vor allem Rotgrün) und den „Mitte-Rechts-Parteien“ verläuft. Die einen seien „für Zuwanderung prinzipiell aufgeschlossen“, die anderen für „Begrenzung“. Dass Scholz seit einem Jahr zusammen mit seiner Innenministerin Faeser propagiert, man müsse „im großen Stil“ für Remigration sorgen, und, wie die FAZ bemerkte, auch schon allem Möglichen zugestimmt hat – nicht zuletzt auf europäischer Ebene (siehe dazu die Analyse von Joshua Graf bei 99zu1) –, geht dabei ganz verloren.

Wenig hilfreich sind auch die Einlassungen des Politikprofessors Hajo Funke, der bisher mit seinen Veröffentlichungen einiges an Aufklärung über die AfD beigesteuert hat. Im Zeitungs-Interview (Bonner General-Anzeiger, 1./2.2.25) erklärt er, Merz habe mit seinem „Tabubruch“ gezeigt, „dass er skrupellos die Macht will.“ Das kann man nicht bestreiten, ist aber nicht gerade eine Besonderheit dieses christlichen Politikers. Weiter heißt es: „Das, was Friedrich Merz durchgesetzt hat, ist ein Dammbruch. Das erste Mal seit 1949 haben demokratische Parteien mit einer antidemokratischen, rechtsextremen Partei bewusst und absichtsvoll zusammen eine Mehrheit erreicht.“ Das bietet noch weniger Aufklärung. Hier geht ganz verloren, was es an inhaltlichen Gemeinsamkeiten gegeben hat und was aus wahltaktischen Gründen zur Fiktion einer völligen Unvereinbarkeit hochstilisiert wurde. Da ist vielmehr Arnold Schölzels Kommentar (Junge Welt, 4.2.25) zuzustimmen: „AfD und Merz besorgen die Hetze, SPD, Grüne und FDP machen die Gesetze“. [2]

Am Schluss heißt es dann bei Funke: „Wir wissen aus Erfahrungen anderer Länder, aber auch aus unserer eigenen Erfahrung, dass eine Annäherung an Rechtspopulisten bei Wahlen eher dem Original hilft, also in diesem Fall der AfD.“ Schlussendlich steht also alles auf dem Kopf! Lernen kann man am Fall Zuwanderung und Demographie gerade etwas anderes: Nicht die AfD ist, wie gern behauptet, das Original, das jetzt bei den anstehenden Verschärfungen im Asyl- oder Ausländerrecht von den „Altparteien“ kopiert wird. Die demokratischen Bevölkerungspolitiker liefern vielmehr die Vorlage, die die Agenda des Nationalstaats in Sachen Intaktheit und Reproduktion(sfähigkeit) des Volkskörpers auf den aktuellen Stand bringt – und damit das Material, an dem die rechten Agitatoren dann immer den rücksichtslosen nationalistischen Geist vermissen.

Und der Protest?

Die antifaschistische Aufregung, die jetzt zu verzeichnen ist und zu erstaunlich breiten Protesten geführt hat, kann man jedoch nicht einfach mit einem Vertrauensbeweis für die etablierten Parteien gleichsetzen. Die Analyse des Gegenstandpunkt hat auf diesen Sachverhalt bereits bei der früheren Anti-AfD-Kampgane aufmerksam gemacht: „Es gibt diejenigen, die die deutsche und europäische Migrationspolitik auch ohne die AfD schon ziemlich schlimm finden. Und es gibt die anderen, die diese Politik unterstützen, sie aber nicht von der AfD gemacht sehen wollen. Der Dissens wird auf den Demonstrationen immer wieder laut – und dann schnell wieder leise. Teilnehmer rufen: ‚Merz, das gilt auch für dich‘ und vermissen bei CDU und SPD die berühmte Brandmauer gegen Xenophobie und Abschiebungspolitik. Es laufen auch Leute mit, die meinen, eine Demonstration für die Demokratie wäre eine Gelegenheit, an das Leiden der Palästinenser in Gaza und das ihnen verweigerte Recht auf eine eigene Demokratie zu erinnern.“ (Decker 2024, 86)

Das ist jetzt wieder genau die Lage, wie sich z.B bei der Bonner Demonstration – nach Berlin und Köln eine der größeren Veranstaltungen – zeigte. Da hier Amnesty International Mitveranstalter war, durfte das Thema Gazakrieg in einer Rede vorkommen, in Übereinstimmung mit der AI-Position, die den israelischen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser kritisiert. Als Rednerin trat eine – jüdische – Vertreterin der antizionistischen Organisation Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost auf. Für Lokalpresse und -politik war das ein Skandal, der auf die Notwendigkeit einer schärferen Kontrolle solcher Veranstaltungen verweist.

Eine systematische Kontrolle findet hier übrigens seit der Vorjahreskampagne statt, der ja damals vom CDU-Vorsitzenden Merz und von Bundespräsident Steinmeier der Weg in die konstruktive und damit allein zulässige Richtung gewiesen wurde: Tatkräftiges Vertrauen in die politische Klasse, die bisher den Laden ohne AfD-Beteiligung geführt hat, sollte am Schluss herauskommen. Notfalls muss hier der Staatsschutz einschreiten. Der operiert seit letztem Jahr etwa mit dem Paragraphen 86a des Strafgesetzbuches, der die „Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger oder terroristischer Organisationen“ unter Strafe stellt (Höchststrafe: drei Jahre).

Wenn Plakate bzw. Parolen mit zu viel antifaschistischem Elan gegen rechts einschreiten wollen oder sonstwie den zur Zeit geforderten Oppositionsgeist vermissen lassen, stattdessen etwa störende Aufklärung in Sachen rechte Gefahr vortragen, zieht die Polizei solche Dinge aus dem Verkehr. So jetzt in Bonn geschehen, wo zwei Demo-Plakate beschlagnahmt wurden, weil sie anscheinend den NS-Vorwurf an die Adresse der AfD zu plakativ vortrugen (wie gesagt nicht zum ersten Mal, bereits im Frühjahr 2024 fuhr die Polizei in einem Bonner Wohnviertel Streife und prüfte, welche Anti-AfD-Plakate zulässig und welche verboten sind). Die Urheber warten jetzt auf das Verfahren nach § 86a. Vielleicht sollten sich die Demonstranten einmal anhand solcher Fälle, aber auch im Blick auf die politische Großwetterlage klarmachen, für welche konstruktiven politischen Zwecke ihre antifaschistischen Ängste hergenommen werden.

Anmerkungen

[1] Die Autorin bringt umfangreiches Material zu ihrer These vom „Genderwahn“ und legt dar, wie die Propaganda für das heterosexuelle Leitbild von Ehe und Familie seine ehrwürdige familienpolitische Tradition hat, die nicht allein aus dem rechtsradikalen Lager gespeist wird. Im Grunde geht es hier ja um Bevölkerungspolitik, die jeder Nationalstaat – ob auto- oder demokratisch verfasst – betreibt. Bei Rüther bleibt jedoch die demokratische Tradition in Sachen Demographie etwas unterbelichtet. Bei ihr erscheint Bevölkerungspolitik als alleiniges Programm der AfD, während demokratische Politiker sich angeblich darum bemühen, die Selbstverwirklichung von Menschen mit Kinderwunsch in einem schwierigen politisch-ökonomischen Umfeld Wirklichkeit werden zu lassen. Dazu ist jetzt eine Rezension des Buchs im socialnet erschienen.

[2] Etwas milder ist der Kommentar von Albrecht von Lucke (2025) in den Blättern für deutsche und internationale Politik ausgefallen, er betont aber auch die grundsätzliche Übereinstimmung in der migrationspolitischen Linie: „Die anderen Parteien setzen der Radikalität der AfD kaum etwas entgegen. Das ist der Kern des AfD-Momentums in diesem Wahlkampf: Anstatt die Rechtsradikalen offensiv zu attackieren und ihre eklatanten Widersprüche aufzudecken, drohen die demokratischen Parteien sich aus eigener Schwäche selbst weiter zu kannibalisieren“. Der Kommentar wurde allerdings vor der neuesten Initiative des CDU-Vorsitzenden verfasst.

Nachweise


Die Brandmauer befeuert den Bundestagswahlkampf

„Bröckelt die Brandmauer?“ Das fragte ein Online-Kommentar von Johannes Schillo zu den jüngsten Entwicklungen ‚nach Aschaffenburg‘. Hier eine aktualisierte Fassung des Textes.

Der Bundestagswahlkampf hat sein heißes Thema gefunden: Jenseits aller Sachfragen geht es um die brennende Frage, ob die Brandmauer gegenüber der AfD hält. So lautete die Eingangsthese des Overton-Beitrags. Mittlerweile hat es einige Kommentare gegeben, die auf denselben Punkt Nachdruck legen. Bei Telepolis hielt z.B. Harald Neuber fest: „Schwarz-blau ist jetzt: Wie die CDU sich nach rechts öffnet – und das als ‚Brandmauer‘ präsentiert“. Und mit Merkels Einspruch ist jetzt die Aufregung groß, ob wir nicht das Ende der liberalen Demokratie erleben.

Ausgangspunkt war die – sonst immer der AfD unterstellte – Praxis einer ‚disruptiven‘ Intervention. „Merz wagt den Tabubruch“, kommentierte die FAZ (25.1.25) zustimmend nach der letzten Amoktat in Aschaffenburg die Linie des CDU-Kanzlerkandidaten. Der hatte nach den Aufforderungen aus CDU/CSU, aber auch aus der Bildzeitung und anderen Medien angekündigt, rechtsstaatliche oder humanitäre Zimperlichkeiten in Sachen Migration endlich fahren zu lassen. „Das Votum der Deutschen ist klar: Die große Mehrheit will sofortige und drastische Maßnahmen gegen die illegale Migration“, meldete Bild (bild.de, 26.1.25). Die „faktische Schließung deutscher Grenzen für illegale Migranten und Asyl-Sucher“ (Bild) sollte endlich das gefährdete Gemeinwesen wieder zur blühenden Landschaft machen. Das goldene Zeitalter, das Trump seiner Nation versprochen hat, soll also auch hierzulande einkehren.

Das hat Folgen, weniger hinsichtlich der praktischen Konsequenzen, die die nationale Politik ergreifen kann und darf (siehe dazu Graf 2025), als im Blick auf ein ideologisches Konstrukt, das in der BRD höchste politische Priorität besitzt bzw. besaß: Angeblich gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und ihren populistischen Rivalen, allen voran der AfD, die ja – in Teilen – als extremistisch zu gelten hat. Automatisch wirksam wird dieser Unterschied freilich nicht, die Demokraten müssen sich gegenseitig immer wieder dazu aufrufen, ihn wirklich zu beachten und die Konkurrenz von rechts aus dem normalen Parteienpluralismus auszugrenzen, eben durch besagte Brandmauer. Doch jetzt heißt es: „Plan zu Migrations-Stopp verändert ALLES“ (bild.de, 27.1.25).

Rechte gegen Genderwahn

Explizit in Frage gestellt wird diese Ausgrenzungsstrategie in christdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen schon seit einiger Zeit. Zuletzt hatte die Brandenburger CDU-Politikerin Saskia Ludwig „eine Koalition ihrer Partei mit der AfD nach der Bundestagswahl für sinnvoll“ gehalten (Junge Welt, 24.1.25). Dabei wandte sie sich explizit gegen eine Brandmauer gegenüber der AfD, die nur dieser Partei und dem „linken Lager“ nutze. „Wenn über 50 Prozent Mitte-rechts wählen, dann muss es auch eine Mitte-rechts-Regierung geben für die Bürger“, sagte sie und warb dafür, „dass wir mit unserer Demokratie deutlich entspannter umgehen müssen und den Wählerwillen akzeptieren“. Arnold Schölzel resümierte zutreffend in der Jungen Welt (25./26.1.25): „Die lächerliche Brandmauer zwischen CDU und AfD, die es auf kommunaler Ebene nie gab und die auf Länderebene systematisch durchlöchert wurde, ist Geschichte.“

Ein Beispiel für diese Durchlöcherung hat jüngst die Historikerin Daniela Rüther mit ihrer Studie über „Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im ‚Genderwahn‘“ (2025) vorgelegt. Es geht um die Polemik, die Rechtsradikale und Rechtspopulisten in Verbindung bzw. Übereinstimmung mit konservativen, gerade auch jüdisch-christlich-muslimischen Kreisen gegen einen „Genderwahn“ der progressiven Kräfte betreiben. Hier bewegt man sich natürlich auf der Ebene einer ideologischen Überhöhung, wo Leitbilder eines sittlich-geordneten Zusammenlebens gegeneinander gestellt werden und beide Seiten die Ebene der praktischen Maßnahmen verlassen, auf der um einzelne familien- oder sozialpolitische Änderungen gerechtet wird, stets kontrovers angesichts „knapper Kassen“ und „vielfältiger Herausforderungen“.

Der von rechts angegriffene Genderwahn soll das Werk eines „Kulturmarxismus“ sein. Sowohl Trump als auch Weidel verwenden diesen ideologischen Kampfbegriff, der den Urheber beim finalen Untergraben der nationalen Sittlichkeit benennen soll. Während der Marxismus politisch keine Rolle mehr spielt, hält er sich erstaunlich zäh als Feindbild – nicht nur rechts außen. Sachlich ist das nicht ganz falsch: Marx und Engels haben schließlich im Kommunistischen Manifest den Proletariern geraten, sich von der Nation und ihren Höchstwerten inklusive Kleinfamilie und Beschränkung der Frauen auf Hausarbeit zu verabschieden.

Der Witz ist nur: Das, was seit gut einem Vierteljahrhundert unter dem Ticket Gender Mainstreaming – ausgehend von UN-Konferenzen – in die europäische und nationale Gesetzgebung als Auftrag zur Gleichstellung von Männern und Frauen Eingang fand und zu verschiedenen (Pseudo-)Aktivitäten wie Genderforschung, gendergerechte Sprache, Anerkennung bislang tabuisierter Sexualpraktiken etc. führte, hat mit dem Marxismus nichts zu tun. Es geht in der Hauptsache darum, wie Menschen, die auf Lohnarbeit angewiesen sind, im Berufsleben oder dem öffentlichen Raum vor Diskriminierungen geschützt, also mit anderen Konkurrenzsubjekten rechtlich und damit dann irgendwie sozial gleichgestellt werden und wie sie das in ihrem Privatleben anhand partnerschaftlicher Leitbilder regeln sollen. Der familiäre Regelungsbedarf bezieht sich darauf, wie die lohnarbeitende Menschheit mit der großartigen Errungenschaft der bürgerlichen Frauenemanzipation fertig wird: dass nämlich die traditionelle Versorgerehe passé ist, in der das Einkommen des männlichen Verdieners den Lebensunterhalt bestritt, und dass mittlerweile beide Partner Geld verdienen müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen.

Die politischen Bemühungen um Gendergerechtigkeit zeigen jetzt, wie viel an materiellen Vorleistungen des Staates eingesetzt werden muss, wenn es darum geht, die Folgen der gigantischen Lohndrückungsaktion in den Griff zu bekommen und Friktionen der Konkurrenzgesellschaft dauerhaft zu beseitigen. Von der Empfängnisverhütung und dem Steuersatz auf Babywindeln über frühkindliche Erziehung, Kitawesen, Ganztagsschulen, berufliche Bildung bis zu Regelungen des Karrierewesens, der Ausmalung von Leitbildern oder der Betreuung einschlägiger Kollisionen muss alles Mögliche getan werden, um eine halbwegs funktionierende Work-Life-Balance hinzukriegen.

Wozu Leitbilder verleiten

Die praktischen Maßnahmen, die politisch ergriffen werden, um das Privat- und Familienleben funktional zu halten, sind das eine. Die Idealvorstellungen, die den Familienmenschen dazu nahe gebracht werden, stehen auf einem anderen Blatt. Auch das traditionelle Familienbild hat dabei schon einige Konjunkturen erlebt. Das weibliche Arbeitskräftereservoir staatlich zu erschließen ist ja nichts Neues, sondern seit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg eine Selbstverständlichkeit: Wenn Not am Mann ist, muss die Frau als Krankenschwester oder Rüstungsarbeiterin ihren Dienst leisten, und auch die Faschisten hatten keine Hemmungen, eine Leni Riefenstahl als ihre Starpropagandistin zu beschäftigen oder das weibliche Fußvolk als Funknachrichtenhelferinnen an die Front oder als Aufseherinnen in die KZ‘s zu schicken. Egal, welche idyllische Hausfrauenrolle im Nazi-Leitbild der Familie eigentlich vorgesehen war!

Das moderne Gender Mainstreaming gehört in die Abteilung der übergeordneten Leitbilder. Wie dargelegt ist es – ganz anders, als die Rechten sich das vorstellen – ein Programm, das den nationalen Erfolg sicherstellen soll. Es tut dies mit einem gewissen idealistischen Überschuss, der sich ganz dem Dienst an den weiblichen, männlichen, diversen oder sonstwie sexuell orientierten Konkurrenzsubjekten verpflichtet weiß. Dass eine materielle, soziale Gleichstellung mit dem supranationalen Verbindlichmachen dieser Strategie erreicht worden sei, können die Vertreterinnen und Vertreter dieser Politik nicht gerade behaupten. Aber das spornt anscheinend nur dazu an, auf dem Ideal noch nachdrücklicher zu bestehen, polemisch gesagt: einen regelrechten Genderwahn zu entwickeln. So gesehen, können sich beide Seiten mit diesem Vorwurf beharken.

Und die wertegeleitete, „feministische Außenpolitik“, wie sie unter der Außenministerin Baerbock Kariere machte, schafft es ohne Weiteres, andere Länder (natürlich nur, wenn es politisch opportun ist) daran zu messen, ob in ihnen irgendeine sexuelle Orientierung aus dem LGBT*-Regenbogen auch angemessen respektiert wird. Und die AfD-Vorsitzende Weidel schafft es, den Wahlerfolg des mächtigsten Mannes der Welt deshalb als globalen Hoffnungsschimmer, weil er mit der „Genderideologie“ Schluss machen will.

„Schluss mit der Genderideologie!“

Unter dieser Überschrift standen die Glückwünsche an die Adresse von Donald Trump, die die AfD-Vorsitzende Alice Weidel am 6. November 2024 über diverse Nachrichtendienste mitteilte. „Nicht das woke Hollywood hat diese Wahl entschieden, sondern die arbeitende amerikanische Bevölkerung.“ So begann ihr erstes Statement zur US-Wahl. Im Interview erläuterte sie: „Vor allen Dingen haben junge Leute Donald Trump gewählt. Warum? Weil sie vernünftig ausgebildet werden wollen und nicht mehr diesen ganzen woken linken Genderquatsch gelehrt bekommen wollen… Ich werde Ihnen sagen, was passiert, wenn die AfD in der Regierung sitzt, sie wird genau diesen ganzen Genderquatsch aus dem Bildungsplan rauswerfen.“

Der „Genderquatsch“ lähmt die Tatkraft junger Leute, verhindert den wirtschaftlichen Aufschwung und lässt stattdessen Massenmigration mit ihrer Gefährdung der inneren Sicherheit zu – so das Credo der AfD-Vorsitzenden, die das totalitäre Gender-Projekt auch schon im Bundestag als totalitären Umbau der Gesellschaft brandmarkte: „Die sogenannte ‚gendergerechte‘ Sprache ist ein Orwell-Projekt. Sie … will über die Manipulation der Sprache auch unser Denken im Sinne der Gender-Ideologie beeinflussen und kontrollieren.“

Vom Gender zur Migration

Was die Studie von Rüther schlüssig darlegt, ist die Verbindung dieser Propaganda für das frühere Familienideal und seine klare heterosexuelle Orientierung an naturgegebenen bzw. naturrechtlichen Daten mit der Hetze gegen Migration. Und dabei wird auch deutlich, dass man es hier mit einem gemeinsamen ideologischen Besitzstand zu tun hat, den das konservative Lager, etwa CDU/CSU, mit radikaleren Vertretern von rechts teilt; dass hier von den grundsätzlichen Überzeugungen her gesehen überhaupt keine Brandmauer existiert, dass sie vielmehr erst künstlich hochgezogen werden muss – sei es, um parteipolitischen Konkurrenten eine Grenze zu setzen, sei es aus einem gewissen Modernisierungsbedarf heraus, den etwa eine Kanzlerin Merkel bei ihrem Agieren in Koalitionsfragen oder der Staatenkonkurrenz sah.

Migration gilt den heutigen Rechten als Bedrohung der Volkssubstanz. Ins humanitäre Extrem getrieben – so lautete die damalige Polemik gegen die „Willkommenskultur“ Merkels, an der sich auch konservative Teile der CDU beteiligten und zu der Innenminister Seehofer (CSU) die Anklage vom „Unrechtsstaat“ beisteuerte – laufe sie mittels des initiierten „Bevölkerungsaustauschs“ auf einen nationalen „Volkstod“ hinaus. Eine Schreckensvision, die nicht nur Faschisten, sondern auch Demokraten umtreibt. So hat ja die postfaschistische Staatengemeinschaft nach dem Ende des Nationalsozialismus in einer eigenen Konvention den „Völkermord“ als das größte denkbare Verbrechen verurteilt. Die Ungeheuerlichkeit dieser Untat macht sich nicht an einem Massenmord fest, der hier geplant oder ausgeführt wird. Es kommt darauf an, dass der Täter oder die Täterin ein Volk zum Verschwinden bringen wollen, unabhängig davon, ob gegen viele Angehörige des Feindvolks vorgegangen wird oder nicht. So reicht ja auch schon der Hinweis auf die chinesischen Reeducation-Lager, in denen islamistische Uiguren gezwungen werden, Schweinefleisch zu essen und sich ins nationale Volksleben einzureihen, als Verdacht, dass hier ein „kultureller Genozid“ unterwegs ist.

Zuwanderung und Nachwuchsproduktion gehören – vom Standpunkt des Staates aus – zusammen. Es sind zwei Optionen, dem Bedarf nach einer brauchbaren Bevölkerung nachzukommen. Auf der Website des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) kann man nachlesen (bmfsfj.de), dass es natürlich zu den Aufgaben demokratischer Politik gehört, „den Herausforderungen des demografischen Wandels“ – auch bekannt als die Überalterung unserer Gesellschaft – zu begegnen. Und bekanntlich hat ja Anfang der 2000er Jahre die CDU einen Landtagswahlkampf mit der Parole „Kinder statt Inder“ bestritten. Das könnte eine AfD unmittelbar für ihr Wahlprogramm benutzen! Wobei die AfD sich heute (s.u.) selber an notwendigen Modernisierungen beteiligt. Der Slogan von Rüttgers aus dem nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf des Jahres 2000 würde den Rechtspopulisten heute vielleicht zu sehr nach der Festlegung auf die Rolle „Gebärmaschine“ klingen?

Früher war diese Rolle selbstverständlich. Als „1953 die Regierung Adenauer die Familienpolitik in den Rang eines Ministeriums“ erhob, das erfährt man auch auf der Website des BMFSFJ, galt eine BGB-Praxis, die mit ihrer Benachteiligung von Frauen eindeutig verfassungswidrig war – wie man heute weiß. Die Berufstätigkeit der Frau war ständiger Kritik ausgesetzt, auch und gerade durch den ersten Familienminister Wuermeling (CDU), den das BMFSFJ mit folgenden Äußerungen zitiert: „Für Mutterwirken gibt es nun einmal keinen vollwertigen Ersatz“. Oder: „Eine Mutter daheim ersetzt vielfach Autos, Musiktruhen und Auslandsreisen“. Laut Wuermeling war auch „der Frau die Aufgabe der ‚Selbsthingabe und Selbstverleugnung‘ zugewiesen, ein Dienst an ‚höheren Zielen‘: Fürsorge für Mann und Kinder“.

Die Verbindungslinie zum normalen Konservatismus – und damit der fiktive Charakter der besagten Brandmauer – hat übrigens FAZ-Redakteur Patrick Bahners in seinen Publikationen über die Ausländerfeindlichkeit („Die Panikmacher“, 2011) oder über den neuen deutschen Nationalismus der AfD („Die Wiederkehr“, 2023) besonders hervorgehoben. Die letztgenannte Studie sucht nach den intellektuellen Wurzeln der rechten Partei und wird dabei – wie schon in der Untersuchung zu den antiislamischen, migrationsfeindlichen „Panikmachern“ – im eigenen, nämlich konservativen Lager, speziell in einem von der FAZ geförderten Geistesleben fündig. Und da dürfte Bahners sich ja auskennen!

Ein letzter Punkt sei noch erwähnt: Auch die AfD versteht sich darauf – wie seinerzeit Merkel –, notwendige Modernisierungen vorzunehmen. Man wird sehen, wozu das im Wahlkampf (und danach dann in eventuellen Koalitionsverhandlungen) noch führen wird. In puncto EU hat es ja schon einige Anpassungsmaßnahmen gegeben, ein Dexit ist wohl nicht mehr vorgesehen, eher eine Umwandlung der EU zu einem Bund der Vaterländer (eine nicht gerade brandneue Idee); und auch zur NATO hat es gewisse Treuebekundungen gegeben.

Darüberhinaus bekennt sich die AfD schon seit einiger Zeit zum Schutz von Homosexuellen, Transpersonen oder Frauen, die von sexueller Gewalt (natürlich durch Ausländer!) bedroht sind. Judith Goetz, Mitherausgeberin des Sammelbandes „Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“ (2024), spricht in einem Interview (Konkret, 2/25) von „strategischen Anpassungen“, die der AfD dazu verhelfen sollen, „sich als offen, tolerant und modern zu inszenieren“. Andere Autoren konstatieren das Auftreten eines neuen „Femonationalismus“ oder „Homonationalismus“, der in den betreffenden Szenen – begrenzt – Anklang findet. Dazu passt ja, dass die Kanzlerkandidatin der AfD in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft mit einer Migrantin lebt.

Auf in den Wahlkampf!

Migration als Wahlkampfthema – das schlägt jetzt nach der letzten Amoktat Wellen und „die Parteien überbieten sich in Sachen Schikane von Asylbewerbern, Kriegs- und sonstigen Flüchtlingen“, wie es zuletzt in dem Beitrag „Wenn sich Brandstifter als Feuerwehrleute anbieten“ bei Overton hieß. CDU-Merz preschte aber auch schon Anfang Januar vor und versuchte der AfD die Vorreiterrolle zu nehmen. Er wolle, so sein Votum ‚vor Aschaffenburg‘ (siehe Bild am Sonntag, 5.1.25), selbst Deutsche abschieben, die eingebürgert sind, wenn sie zwei Straftaten begangen haben. Die AfD denkt erst einmal, so die Entscheidung ihres Wahlparteitags, „nur“ an die Abschiebung krimineller oder unberechtigt anwesender Personen…

Eine solche Dramatisierung des Migrationsproblems im Wahlkampf hat in der Tat etwas Wahnhaftes. So als ob hier angesichts von Weltkriegsgefahr, Klimakatastrophe, weltweiter, auch einheimischer Verelendung und Prekarisierung, die jetzt sogar unseren Wohlfahrtsstaat zum Abbau eines überzogenen Leistungskatalogs zwingt, der eigentliche Notstand, der alle betrifft, ausgemacht wäre. Aber sie hat ihre Logik. Wo das Volk sich sowieso keine sozialen Wohltaten mehr von der nächsten Regierung erwarten soll, höchstens die Beseitigung von ein paar Gerechtigkeitslücken (wie vor allem die SPD verspricht), die mit Respekt vor den sozialen Härtefällen ausgefüllt werden sollen, kann man den Leuten auch einmal den eigentlichen Lohn ihrer Dienstbeflissenheit vor Augen führen: Er besteht darin, was Overton schon in den letzten Wahlkampf-Analysen herausstellte, dass man mit anderen, den Migranten und denen, die nicht hierhergehören, noch rabiater umgeht als mit den eigenen Leuten. Das ist das tolle Angebot: Das treue, „privilegierte“ Eigenvolk, das sich alles gefallen lässt, darf beim Wahlkampf dabei zuschauen, wie sich die Parteien mit ihren Vorschlägen zur Schlechterstellung anderer überbieten.

Und lernen kann man am Fall Zuwanderung und Demographie auch noch eine andere Lektion: Nicht die AfD ist, wie gern behauptet, das Original, das jetzt bei den anstehenden Verschärfungen im Asyl- oder Ausländerrecht von den „Altparteien“ kopiert wird. Diese liefern vielmehr die Vorlage, die im Grunde jedem Nationalstaat vertraute Sorge um Intaktheit und Reproduktion(sfähigkeit) seines Volkskörpers. Die Konjunkturen, die sie dabei in arbeitsmarkt-, renten- oder industriepolitischer Hinsicht, bei Kriegen, Umsiedlungen oder sonstigen transnationalen Händeln zu bewältigen haben, liefern dann das Material, an dem sich rechtspopulistische Schmarotzer bedienen können – immer mit dem billigen Vorwurf, man könnte und müsste das Ganze noch mehr im nationalen Interesse gestalten.

P.S. Wie eingangs erwähnt, war der fiktive Charakter der Brandmauer nicht schwer zu erkennen. Dazu gab es ja auch in der politischen Öffentlichkeit immer wieder eindeutige Hinweise – sofern sich die Medien dafür interessierten und nicht, wie nach der Entlarvung des angeblichen Potsdamer „Geheimtreffens“, die Rechtspopulisten aus der demokratischen Gemeinschaft ausgrenzten, weil sie Pläne für eine ethnische Säuberung von NS-Format in den Schubladen hätten und mit der Errichtung einer faschistischen Diktatur beginnen würden, wenn sie an die Macht kämen. Bei Overton hieß es dazu in einem Kommentar im Sommer 2023: „Fragt sich nur, wie lange diese Abgrenzungsstrategie hält, hatte doch auch der frühere SPD-Ministerpräsident Börner zunächst den Grünen mit der Dachlatte gedroht, bevor seine Partei mit ihnen eine Koalition bildete. Bei so viel inhaltlicher Nähe zwischen AfD und den ‚etablierten‘ Parteien kann nach einer Wahl das politische Klima auch schnell kippen, denn schließlich geht es allen – auch der AfD – immer nur um eins: um Deutschland.“

Nachweise

  • Patrick Bahners, Die Panikmacher – Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift. München 2011.
  • Patrick Bahners, Die Wiederkehr – Die AfD und der neue deutsche Nationalismus. Stuttgart 2023.
  • Suitbert Cechura, Umfragehoch für die AfD – oder was die Wähler falsch machen, in: Overton-Magazin, 24. August 2023.
  • Suitbert Cechura, Wenn sich Brandstifter als Feuerwehrleute anbieten, in: Overton-Magazin, 19. Januar 2025.
  • Judith Goetz, „Transpersonen fungieren als Kronzeug*innen“ – In der AfD engagieren sich erstaunlicherweise auch Transpersonen. Interview in: Konkret, Nr. 2, 2025, S. 40-41.
  • Judith Goetz/Thorsten Mense (Hg.), Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus. Münster 2024.
  • Joshua Graf, Flucht – Asyl – Abschottung und das GEAS. 99 zu Eins, Episode 463, 23.1.25.
  • Daniela Rüther, Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im „Genderwahn“. Bonn 2025.

Januar

Was verweigern eigentlich KDVler?

Die Wehrpflicht kommt wieder, damit auch das Recht der Kriegsdienstverweigerung (KDV), das im Grundgesetz verankert ist, zu neuer Bedeutsamkeit. Dazu ein Kommentar von Johannes Schillo.

Im Overton-Magazin erschien jüngst der Beitrag „Von der Kriegsdienstverweigerung zur Kriegstreiberei“. Er fragte: „Wo sind sie hin, die Anhänger der Gewaltfreiheit im friedenspolitisch geläuterten Deutschland, all die Verweigerer, die es einmal gab?“ Ja, sag mir, wo die Typen sind, wo sind sie geblieben, könnte man mit Pete Seeger anstimmen. Die Antwort ist natürlich ganz einfach, sie sind an der Macht, saßen z.B. im Kabinett der Ampelregierung, wo es kaum jemanden gab, der gedient hat. Kanzler Scholz und Vizekanzler Habeck konnten es z.B. vor Jahrzehnten nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, auf Menschen zu schießen, und erinnern sich heute – irgendwie distanziert, auch belustigt – an ihre pazifistisch infizierte Jugendphase.

Habeck steht zu seiner Biographie, wie er dem Spiegel Ende 2024 mitteilte: Er „absolvierte einst den Zivildienst – und erinnert diesen als gute Zeit. Zwar sei er mit seiner damaligen Entscheidung im Reinen. Aber: ‚Ob ich das heute so tun würde in einer anderen Situation, das weiß ich nicht, beziehungsweise ich vermute, ich würde es nicht tun‘.“ Genial verlogen das Bekenntnis zur eigenen Geradlinigkeit, aber auch sachgerecht das Kokettieren mit der Gewissensentscheidung, von der man nur mutmaßen kann, wie sie in der konkreten Situation ausfällt.

Das passt zum KDV-Recht. Hier ist ja eine innere Stimme verlangt, die man sich als Instanz im Menschen denken muss. „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ So das Grundgesetz. Nicht die Vernunft, der Widerwille gegen das Töten wildfremder Leute oder gar die eigene Bequemlichkeit, die von Aufenthalten in Schützengräben lieber Abstand nimmt, dürfen hier geltend gemacht werden. Ein „ich will das nicht“ hat hier keine Berechtigung, auch dann nicht, wenn ein „weil…“ folgt und die Gründe ausführlich dargelegt werden, wie Ole Nymoen das für sein neues Buch bei Rowohlt angekündigt hat. Die Stimme des Gewissens ist gefragt und dieser innere Vorgang muss in der glaubwürdigen Inszenierung einer sittlichen Persönlichkeit dem Prüfungsausschuss präsentiert und von dort abgesegnet werden.

Pazifismus aus nationaler Verantwortung

Damit ist das ganze KDV-Wesen – wie immer demnächst das Bundesgesetz das „Nähere“ regeln wird, ob per vereinfachtem Antragsverfahren mit schriftlicher Begründung oder aufwändiger mit dreistufigem Prüfungsausschuss etc. – auf eine individualisierende, irrationale Schiene gesetzt, die jedenfalls einen oppositionellen Geist gegen staatliche Indienstnahme unterbinden will. Dass die Friedensbewegten und Verweigerer von gestern die Kriegstreiber von heute sind, kann man trotzdem als Widerspruch festhalten. „Nur ein Ampelminister hat Wehrdienst geleistet“, vermeldet bei Gelegenheit immer noch erstaunt die Presse, sogar „Finanzminister Christian Lindner (FDP) leistete Zivildienst.“

Wer sich darüber wundert, hat allerdings zwei Dinge übersehen. Erstens die Vorgeschichte des neuen deutschen Militarismus und zweitens den systematischen Grund, der politisch denkende Menschen zu diesem eigenartigen Übergang – von der Verweigerung militärischer Notwendigkeiten zum glatten Gegenteil – bewegt. Der Overton-Beitrag hat dies im Blick auf die grundsätzlichen Triebkräfte, nämlich den Nationalismus der damaligen Friedensbewegung und den staatstreu eingefärbten Pazifismus, zu erklären versucht. Dazu hier einige Nachträge.

Der erste Punkt dürfte den heutigen Resten der Friedensbewegung kein Geheimnis sein, haben sie doch in den 90er Jahren hautnah erlebt, wie sich realpolitisch bzw. verantwortungsvoll denkende Weggefährten in den Mainstream bzw. in neue Politkarrieren verabschiedeten. Es war ja gerade der grüne Anspruch auf „robuste“ Durchsetzung von Menschenrechten, der neue „Bellizismus“ von Gutmenschen, der nach der Wende im Osten die Weichen hin auf Kriegsbeteiligung stellte und der schließlich im Bündnis mit der Sozialdemokratie 1999 – in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, wie Kanzler Schröder später einräumte – Serbien zur Räson brachte. Eine Analyse in Sachen „konsequente Karriere von Kriegsgegnern zu gewissenhaften Militaristen“ kann man übrigens im Gegenstandpunkt nachlesen. Der Text, der bereits Anfang 1996 erschien, also lange bevor unter Rotgrün die Entscheidung in Sachen Kosovokrieg fiel, legt auch im Einzelnen den antikritischen Geist des staatlich konzessionierten Pazifismus dar.

Dessen zentraler Fehler besteht in der Bereitschaft, sich der Instanz, die mit Krieg und Frieden als Optionen ihrer Selbstbehauptung wie auswärtigen Durchsetzung kalkuliert, als dienstbereites Individuum zu unterstellen, das nur an einer Stelle, quasi aufgrund eines persönlichen Defekts, beim loyalen Mitmachen behindert ist. „Die Tatsache des Krieges entdeckt der Pazifist, die Frage nach dem Grund des Krieges ist für ihn irrelevant. Er verurteilt den Krieg, nicht aber die Politik, die die Kriegsgründe schafft und für die Durchsetzung ihrer Vorhaben bisweilen zu dieser letzten Konsequenz schreitet. Dabei ließe sich dem politischen Getriebe in der Zeit zwischen den Kriegen durchaus einiges über deren Gründe entnehmen…“ (Held 1996, 154)

Wie gesagt, das ist eine Analyse, die sich auf die Entwicklung bis 1995 bezog, als die Großtaten des grünen Bellizismus noch gar nicht stattgefunden hatten. Außerdem wäre daran zu erinnern, dass die Marxistische Gruppe, der Vorläufer des Gegenstandpunkt, mit ihrer Kritik am Nationalismus der Friedensbewegung bei den einschlägigen Demos der 80er von Anfang an vertreten war, sogar selber eine Großdemo in Bonn veranstaltete; dass diese Kritik also in der Republik öffentlich präsent war (siehe auch Held/Ebel 2023), von den friedensbewegten Aktivisten jedoch entschieden zurückgewiesen wurde, da die Herstellung eines „breitesten Bündnisses“ Priorität habe. Die nationale Borniertheit der damaligen Friedensbewegung war aber auch Thema an anderer Stelle, etwa beim März-Verleger Jörg Schröder, der später mit der Rubrik „Schröder erzählt“ sein erzählerisches Talent unter Beweis stellte.

Schröder konnte wirklich viel erzählen, wenn der Tag lang wurde, und seine Oral History „COSMIC“, die er zusammen mit dem Journalisten Uwe Nettelbeck verfertigte, wartete mit der steilen These auf, er, Schröder, sei der Erfinder der westdeutschen Friedensbewegung gewesen. Denn er habe das Schreckensszenario „Atom-Rampe Deutschland“, so der reißerische Stern-Titel von 1981, in die Welt gesetzt und damit den Startschuss für die öffentliche Aufregung gegeben. Was er in der Tat belegen kann ist ein allgemeines Totschweigen der konkreten Atomkriegsgefahr, das Ende der 70er Jahre in der westdeutschen Öffentlichkeit vorherrschte. Qualitätsmedien wie Spiegel, FR, FAZ wollten von Atomwaffen, die bereits auf deutschem Boden lagerten und das atomare Risiko für Deutschland auch ohne die neuen Pershings und Cruise Missiles der Nachrüstung erhöhten, nichts wissen (vgl. Schröder/Nettelbeck 1982, 145f).

Der März-Verlag teilt resümierend über den „Politskandal“ von 1980 mit: „Schröder entdeckt die Depots von Mininukes entlang der Zonengrenze, welche in sogenannten ‚Wasserwerken‘ lagern, erzählt davon in ‚Transatlantik‘ und der ‚taz‘. Verfassungsschutz und CIA reagieren panisch, der ‚Stern‘ steigt ein mit ‚Atomrampe Deutschland‘, Beginn der neuen Friedensbewegung.“ Der nationalistische Geist der Bewegung wird bei Schröder deutlich, wenn auch eher in gehässigen Bemerkungen über einzelne Aktivisten und über den provinziellen Geist dieses Heimatschutzes, Entwicklungen zum Ökofaschismus inbegriffen: „es muß dieser ganze Müslimuff und Moralmuff und Bewegungsmuff sich nicht unbedingt wie schon einmal gehabt transformieren, aber weiß der Teufel, aus welchem Ei es kriechen wird“ (Schröder/Nettelbeck 1982, 257).

Wir verweigern uns!

Man wird in der BRD jetzt natürlich abwarten müssen, wie die Neufassung oder Wiederinkraftsetzung der Wehrpflicht im Einzelnen aussieht und welche Neuerungen (Einbeziehung des weiblichen Nachwuchses, Einführung eines allgemeinen Dienstjahres…) sich eventuell ergeben. Die Abschaffung des KDV-Rechts ist dabei kaum zu erwarten. Wenn es bei der bisherigen gesetzlichen Regelung bleibt, unterstützt es ja auch die Herstellung einer individualistischen Haltung, die nicht zu Opposition anregt. Und das mehrstufige Prüfverfahren ist so angelegt, dass auf dem Verwaltungswege die Anerkennungskriterien ohne großen Aufwand verschärft werden können. Die Ausschussmitglieder prüfen ja eine innere Einstellung und haben daher ziemliche Freiheiten, um sich vom persönlichen Auftreten des Prüflings und seiner moralischen Inszenierung beeindruckt zu zeigen oder auch nicht.

Der Bundeskongress der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG/VK) fand Ende 2024 unter dem Motto „Kriegsdienstverweigerung ist Menschenrecht! Weltweit!“ in Halle statt. Man kam zusammen, um über die gegenwärtigen Kriege und eine mögliche Reaktivierung der Wehrpflicht zu diskutieren. „Mit der Debatte über die von Pistorius im Juni vorgestellten Pläne für einen sogenannten Neuen Wehrdienst rückt auch hierzulande das Thema Verweigerung wieder auf die Tagesordnung“, resümiert das Neue Deutschland die Einschätzung der Kongressteilnehmer. Der DFG-Geschäftsführer erklärte dazu: „Wir bieten schon wieder Beratung an und wir bekommen auch Anfragen“. „Wehrpflicht ohne mich“ lautet denn auch das Motto einer Kampagne, die die Friedensorganisation „in der nächsten Zeit“ durchführen will.

Natürlich kann man Kriegsdienstverweigerung als Möglichkeit zum antimilitaristischen Einspruch nehmen, d.h. das KDV-Recht tendenziell missbrauchen. Es gab ja sogar eine Zeit, als Kriegsdienstverweigerung, die von Anfang an mit gewissen bürokratischen Hürden versehen war, eine Verbindung mit einer Protestbewegung einging. In den zehn Jahren nach der Wiederbewaffnung führte sie zunächst ein Schattendasein und stieg erst danach, im Zuge der Unruhen von APO und antiautoritärer Revolte, zu einer Massenbewegung auf. Sich „dem System“ zu verweigern, wurde zum Programm einer lautstarken und tonangebenden Minderheit, die nach dem Urteil der Jugendforschung damals das Profil der „protestierenden Generation“ bestimmte.

Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt haben zuletzt in ihrem Videopodcast „Wir diskutieren über Herbert Marcuse!“ (2024) an diese Zeit erinnert. Sie beschäftigen sich mit Marcuses „Versuch über die Befreiung“ (1969), in dem sich der Kritische Theoretiker aus dem Kreis um Adorno und Horkheimer mit dem herrschenden „korporativen Kapitalismus“ auseinandersetzte und mit dem damaligen Protestpotenzial – mit Studentenbewegung, Bürgerrechtsprotesten, antiautoritärer Rebellion in den Metropolen, mit Revolten oder Aufständen im globalen Süden. All das müsste man miteinander verbinden, Chancen dazu gebe es. „Die Große Weigerung nimmt verschiedene Formen an“, hieß es eingangs in Marcuses Statement (Marcuse 1969, 9). Der Widerstand beschränke sich nicht auf die Front gegen die Kapital-Interessen, sondern ziele auch darauf, „Frieden zu verwirklichen“, denn die „jungen Rebellen wissen oder fühlen, daß es dabei um ihr Leben geht, um das von Menschen, das zum Spielball in den Händen von Politikern, Managern und Generälen wurde.“ (Ebd., 12)

Das Duo Nymoen/Schmitt, das den Podcast Wohlstand für alle betreibt, diskutiert Marcuses Hauptthese, die „korporativ“ ins System integrierte Arbeiterbewegung müsse durch weitere Protestbewegungen wiederbelebt, verstärkt und erweitert werden – aber ohne dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit aus dem Blickfeld gerate und ohne dass ein Abgleiten in reformistische, kultur- oder konsumkritische Verbesserungsprogramme stattfinde. Marcuses Vorschläge erweisen sich, so könnte man das Fazit der Diskussion ziehen, als wenig hilfreich; im Grunde werde ein Wunschtraum ausgebreitet, der gleichzeitig wieder mit „realistischen“ Argumenten ein Dementi erfahre.

Am Schluss bleibt vielleicht als wichtigster Punkt aus Marcuses Überlegungen die Warnung, nicht im Vertrauen aufs Völker- oder Menschenrecht der Staatsautorität entgegenzutreten – so als könnte man sie auf die Einhaltung höherer Normen verpflichten. Wenn die DFG Kriegsdienstverweigerung zum Menschenrecht – „Weltweit!“ – erklärt, dann ist das eben auch nur ein Wunschtraum. Die UN-Charta der Menschenrechte kennt kein spezifisches Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das weiß auch die heutige Protestbewegung. Wenn es wirklich zu einer Großen Weigerung kommen soll, dann bedarf es des Oppositionsgeistes und nicht der Vertrauensbildung in die dem Volk gewährten Grundrechte.

Nachweise

  • Karl Held/Theo Ebel: Krieg und Frieden – Politische Ökonomie des Weltfriedens. (Edition Suhrkamp, Neue Folge, Nr. 149, 1983) 2. Auflage, Gegenstandpunkt, München 2023. Siehe die Rezension im socialnet.
  • Karl Held (Red.), Das Elend des Pazifismus – Die konsequente Karriere von Kriegsgegnern zu gewissenhaften Militaristen, in: Gegenstandpunkt, Nr. 1/2, 1996, S. 147-160, online: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/elend-pazifismus
  • Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung. Edition Suhrkamp 329. Frankfurt/Main 1969.
  • Ole Nymoen, Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde – Gegen die Kriegstüchtigkeit. Rowohlt, Hamburg 2025 (erscheint Anfang März).
  • Ole Nymoen/Wolfgang M. Schmitt, Frankfurter Schule: Wir diskutieren über Herbert Marcuse! Wohlstand für alle, Episode 278, 4.12.2024 https://www.youtube.com/watch?v=MraFDEMrNHA&t=187s
  • Jörg Schröder/Uwe Nettelbeck, COSMIC. In: Die Republik, Nr. 55-60, 3. Juni 1982, S. 54-340.

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texts25.txt · Zuletzt geändert: 2025/03/13 12:51 von redcat

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