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Textbeiträge 2024

An dieser Stelle veröffentlichen wir Texte und Debattenbeiträge. Wer Anmerkungen dazu hat, wende sich an die IVA-Redaktion (siehe „Kontakt“).

September

Marx und der „linke Antisemitismus“

Der „Jude Marx“ – seinerzeit von bürgerlichen oder linken Kritikern angefeindet – gilt schon seit längerem als Stammvater eines linken Antisemitismus. Zu diesem Vorwurf, der heutzutage Hochkonjunktur hat, einige Hinweise der IVA-Redaktion.

Die biographische Mode, die beim Marx-Jubiläum 2018 die Leitschnur abgab, lieferte nicht einfach einige anekdotische, lebensgeschichtliche Zusätze zum Rückblick auf die Begründung der wissenschaftlichen Kapitalismuskritik – sie lenkte vielmehr von einer Auseinandersetzung mit der Sache ab und meist zur Vervollständigung des marxistischen Sündenregisters hin, das der Antikommunismus im Grunde seit der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests führt. Dies war bei IVA schon mehrfach Thema. Hier eine Fortsetzung, die noch einmal den Streitpunkt Antisemitismus aufgreift.

Linker Antisemitismus?

Die Behauptung vom linken Antisemitismus und der Rolle, die Marxens Aufsatz „Zur Judenfrage“ von 1844 bei dessen Entstehung und Ausbreitung gespielt haben soll, geht in der Hauptsache auf die Totalitarismustheoretikerin Hannah Arendt zurück, jedenfalls wurde sie mit deren Gleichsetzung von „rot“ und „braun“ populär. Arendt schrieb in „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ (1986, 75): „Der Antisemitismus der Linken, wie wir heute sagen würden, blieb nur insofern von Bedeutung, als er eine bestimmte Tradition theoretischer Art in der späteren Arbeiterbewegung begründete, deren klassisches Werk Marx‘ Jugendschrift ‚Zur Judenfrage‘ ist.“

Was Arendt hier, wie sie selber sagt, im übertragenen (nämlich von heute aus formulierten) Sinne als linken Antisemitismus bezeichnet, sind nicht die sozialistischen, sondern diverse liberale und radikal-bürgerliche Strömungen, die sich in den 1820er und 1830er Jahren in Preußen oder in Frankreich herausbildeten und die im „Geldjuden“, der den absolutistischen Staat stützte, ihren Feind sahen. Diese bürgerliche Richtung folgte laut Arendt auf die aristokratische Judenfeindschaft, die den „Pressejuden“ als Symbol einer zersetzenden Intelligenz angriff, während sie das „Geldjudentum“ schätzte (ebd., 73), was danach vom liberalen bürgerlichen Lager unter umgekehrten Vorzeichen fortgeführt worden sei. „Links“ steht bei Arendt also für „liberal“, wie überhaupt ihr Kapitel über den „Antisemitismus der Linken“ (ebd., 88-102) beide Kategorien gleichsetzt. Dies zeigt sich auch an den Stellen, die explizit auf die Arbeiterbewegung, so weit sie von Marx beeinflusst war, zu sprechen kommen. Arendt schreibt: „Als einzige Schicht (blieb) die Arbeiterschaft verhältnismäßig immun gegen den Antisemitismus, vor allem in Deutschland, wo sie marxistisch geschult war.“ (Ebd., 62) Die Arbeiter hätten „primär mit einer anderen Gesellschaftsklasse, der Bourgeoisie, in Kampf“ gestanden, „aber nicht mit dem Staate als solchem. Da die Juden zu dieser Bourgeoisie nicht gehörten, waren die Arbeiter antisemitischen Einflüssen nicht zugänglich“ (ebd.).

Arendts Theorie des Antisemitismus ist, wie man hier schon sieht, ein seltsames Gebilde, die Erklärung jedenfalls nicht schlüssig. Denn die angeführte „linke“, d.h. linksliberale Opposition gegen den „Geldjuden“ identifizierte diesen doch gerade mit der Geld- und Kapitalmacht, die im Lande herrschte; sie sah in ihm den „Staatsbankier“, ohne dessen Zustimmung keine wichtigen politischen Entscheidungen, z.B. in der Frage von Krieg und Frieden, getroffen werden konnten. Die Arbeiterklasse befand sich, als sie mit eigenen Zusammenschlüssen antrat, in einer ähnlichen gesellschaftlichen Frontstellung. Dass sie also per se vor einer solchen Sichtweise gefeit gewesen wäre, leuchtet nicht ein. Die jüdische Finanzmacht stützte den Staat, auch wenn sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihre frühere herausragende Bedeutung verlor; aber noch Bismarck schätzte das „Geldjudentum“, wie Arendt zitiert (Arendt 1986, 73), da dessen Interessen „mit der Erhaltung unserer Staatseinrichtungen“ verknüpft seien, während Bismarck dem „besitzlosen Judentum in Presse und Parlament“ nichts abgewinnen konnte. Soweit die Arbeiterbewegung marxistisch geprägt war, hatte sie sich eben von dieser bornierten rassischen Perspektive freigemacht. Sie stand im Gegensatz zum Staat überhaupt, den sie als geschäftsführenden Ausschuss der Bourgeoisie verstand, wie es im Kommunistischen Manifest hieß.

Doch zurück zu Marxens frühem Aufsatz aus dem Jahr 1844. Dieser habe sich in die genannte liberale Tradition gestellt, woran Arendt folgende Bemerkung knüpft, die nebenbei auch noch die beliebte These vom „jüdischen Selbsthass“ [1] zurückweist: „Man hat Marx, da er Jude war, oft und sehr zu Unrecht des ‚Selbsthasses‘ beschuldigt; in Wahrheit ist die Tatsache, daß der Jude Marx die Argumente der Radikalen aufgreifen und auf seine Weise systematisieren konnte, nur ein Zeichen dafür, wie wenig sie mit dem Antisemitismus späterer Zeit zu tun hatten. Marx fühlte sich natürlich durch seine Argumente gegen das Judentum so wenig als Person oder als ein Individuum betroffen wie etwa der Deutsche Nietzsche durch seine Polemik gegen die Deutschen. Daß Marx nach dieser Jugendschrift sich nie wieder zur Judenfrage geäußert hat, hat gar nichts damit zu tun, daß er Jude war, sondern ist die Folge dessen, daß für ihn der Staat nur die Maskierung der wirklichen Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft ist und er sich daher an allen Fragen, welche die Staatsstruktur betreffen, desinteressierte. Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft und in der industriellen Produktion, der er seine ganze Aufmerksamkeit widmete, kamen die Juden einfach nicht vor, weder als Verkäufer oder Käufer von Arbeitskraft, weder als Unternehmer noch als Ausgebeutete. Für die Kämpfe innerhalb der Gesellschaft blieben die Juden in der Tat ohne jede Bedeutung.“ (Ebd., 75f)

Ohne hier auf Arendts Theorie des Antisemitismus weiter einzugehen, kann man zumindest im Blick auf den Marx-Aufsatz festhalten: Die Totalitarismustheoretikerin behauptet gerade nicht, dass er als Dokument oder Ausgangspunkt eines „linken“, d.h. sozialistischen oder kommunistischen Antisemitismus zu lesen ist. Im Gegenteil, man soll hier die Nachwirkungen einer „radikalen“, d.h. bürgerlichen Position spüren, die übrigens wie ihr aristokratischer Vorläufer in die Vorgeschichte des modernen Antisemitismus gehöre. Marx selber habe mit dessen Rassenideologie nichts zu tun. Als diese Ideologie zum Ausgangspunkt eines politischen Programms wurde – Arendt: „Antisemitische Bewegungen gibt es erst seit dem letzten Drittel des vorigen [= 19.] Jahrhunderts“ (ebd., 76) –, hätten sich die Schüler von Marx und Engels entschieden dagegen gestellt. So weit der Theoretiker Marx gewirkt hat, wurde also der Gegensatz der Klassen (und der Staat als Hüter und Garant dieser Klassengesellschaft) in den Mittelpunkt gerückt – und nicht die Verschiedenheit der Rassen.

Ein Etikettenschwindel…

Im Grunde muss man also Arendts Kategorisierung „Linker Antisemitismus“ als dreisten Etikettenschwindel bezeichnen. In dem besagten Kapitel behandelt Arendt die beiden Länder Frankreich und Österreich-Ungarn, d.h. vor allem die politischen Formationen, die dort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Antisemitismus trugen. Das sind im ersten Fall die „Deutsche Liberale Partei“ (ebd., 91f) und die „Christlich-Sozialen“ (ebd., 92), im zweiten Fall die (anti-)klerikalen Strömungen, die im Verlauf der Dreyfus-Affäre eine Rolle spielten. In dem Zusammenhang sind also der Liberalismus und das radikale Kleinbürgertum gemeint, explizit nicht die Linke, also die sozialistisch-marxistischen Richtungen, die in Arbeiterbewegung oder -parteien tonangebend waren. Es wird vielmehr ausdrücklich erwähnt, dass sich die französischen Sozialisten angesichts des erstarkenden Antisemitismus entschlossen, „judenfeindliche Propaganda aus ihren Reihen auszumerzen und schließlich sogar gegen die Judenhetze zur Zeit der Dreyfus-Affäre aufzutreten“ (ebd., 96f).

Dass Arendt von linkem Antisemitismus spricht, begründet sie damit, dass man der Auffassung entgegen treten müsse, Judenfeinschaft sei schlichtweg „reaktionär“ (ebd., 88) gewesen. Ihre Übersicht bringt zwar zahlreiche Belege dafür, dass es eine mächtige reaktionäre, also aus der konservativ-aristokratischen Reaktion gegen die bürgerliche Umwälzung gespeiste antisemitische Linie gab. Die Autorin findet aber Ähnliches im liberalen Lager, speziell beim radikalen Kleinbürgertum. Bei dieser Gelegenheit bringt Arendt denselben Hinweis an wie im Fall des Aufsatzes „Zur Judenfrage“ und verweist auf Marx und Börne. Die beiden jüdischen Polemiker hätten in der bürgerlich-liberalen Tradition gestanden, wie sie in Frankreich am deutlichsten spürbar war: „Es gab in Frankreich etwas, was es weder in Deutschland noch in Österreich je gegeben hat, nämlich ein revolutionäres Kleinbürgertum“ (ebd., 97).

Mit dessen Position, die sich vor allem gegen die Macht des jüdischen Bankhauses Rothschild richtete – „zwischen 1815 und 1914 war die Familie Rothschild im Besitz der weltgrößten Bank“ –, bringt Arendt Marx und Börne in Verbindung. Dabei betont sie zugleich den Unterschied: Die beiden seien eindeutig „witziger und schärfer, weil in ihnen die ganze Erbitterung der mit Recht sich betrogen fühlenden jüdischen Intelligenz zum Ausdruck kommt“ (ebd., 98). Arendt ordnet sie also einem Konflikt in der jüdischen Community zu, wie er zum Ende des Jahrhunderts in dem Roman von A. Levy dargestellt wurde. So kommentiert sie auch an einer späteren Stelle, wo sie noch einmal aufs frühe 19. Jahrhundert zu sprechen kommt: „Die antijüdischen Äußerungen von Marx und Börne kann man nur verstehen als Ausdruck dieses innerjüdischen Konflikts“ (ebd., 127).

Trotz diesen Präzisierungen muss man es als eine intellektuelle Unredlichkeit der Totalitarismustheoretikerin bezeichnen, dass sie das Schlagwort vom „linken Antisemitismus“, das seitdem in der Öffentlichkeit kursiert, derart kontrafaktisch in die Welt gesetzt hat. Wie gesagt, das betreffende Kapitel stellt keine linken Parteien vor, sondern liberale und christlich-soziale Strömungen, die im Prinzip – von zufälligen oder taktischen Übereinstimmungen abgesehen – Gegner der Arbeiter- und Linksparteien waren. Hier hat das Etikett „links“ im Grunde nichts verloren. Im Länderbericht zu Frankreich kommt die Autorin z.B. darauf zu sprechen, dass der Adel eine wesentliche antisemitische Triebkraft darstellte, dass also, anders als in der Eingangsbemerkung behauptet (ebd., 88), reaktionäre Kräfte bei der Durchsetzung des rassistischen Weltbildes durchaus eine wichtige Rolle spielten. Ähnliches dürfte für die österreichischen Verhältnisse gelten, wo die christlich-soziale Richtung mit ihrer Orientierung an der katholischen Kirche ebenfalls eine reaktionäre Kraft darstellte, jedenfalls nicht als linksliberal eingestuft werden kann.

Dabei ist der Vorwurf der Unredlichkeit nicht allein der Autorin, sondern vor allem den zahllosen Nachbetern ihrer Theorie zu machen, die wie selbstverständlich davon ausgehen, dass die Totalitarismustheorie den sachlichen Befund eines linken Antisemitismus bei Marx und seinen Nachfolgern erbracht habe; und die von dort aus eine Linie ziehen – anders als Arendt mit ihren Hinweisen auf eine bürgerlich-liberale Position, deren Nachwirkungen sich noch beim jungen Marx, aber nicht mehr in dessen Kritik der politischen Ökonomie finden sollen –, die zum heute so titulierten linken Antisemitismus (Antizionismus, Solidarität mit den Palästinensern, Kritik am Staat Israel…) führe.

…macht Geschichte

Einer der heutigen Nachbeter der These vom linken Antisemitismus, Stephan Grigat (2002), schreibt in seinem Text über „Antisemitismus und Antizionismus in der Linken“ rückblickend z.B. Folgendes: „Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Linken schon immer zu den entschiedensten Gegnern des Antisemitismus gehörten, läßt sich eine Tradition des linken Antisemitismus bis zum Frühsozialismus zurückverfolgen. Von Blanqui bis Fourier, von Saint-Simon über Proudhon bis Bakunin lässt sich von der Verharmlosung antisemitischer Ressentiments bis zu offen rassistisch-antisemitischen Argumentationen alles nachweisen.“ Ja, wenn man alles Mögliche zusammenwirft, was irgendwann von Linken gegen jüdische Personen oder Einrichtungen gesagt wurde, dann kann man eine solche Traditionslinie konstruieren. Dafür muss man natürlich die Kontroversen ihres Sinns entkleiden, z.B. die Tatsache unterschlagen, dass Bakunins antisemitische Äußerungen – in dem Fall handelt es sich wirklich um solche, und zwar im Grunde um Vorwegnahmen der späteren NS-Position (Wall Street und Bolschewismus als Varianten jüdischen Weltmachtstrebens) – explizit gegen Marx und den Marxismus gerichtet waren.

Natürlich greift auch Grigat Arendts Kapitel über den linken Antisemitismus auf. So spricht er von den „strukturell antisemitischen Prämissen der grundsätzlichen Kapitalismuskritik in der Arbeiterbewegung“ und fügt als Beleg einen Hinweis auf Arendts einschlägiges Kapitel an: „Nicht ganz zufällig konnte sich der radikale Antisemit Georg von Schönerer, einer der wichtigsten Stichwortgeber Hitlers, der sich über Jahre mit demagogischen Angriffen gegen die Rothschilds hervortat, gewisser Sympathien bei Teilen der Sozialdemokratie erfreuen.“

Das Zitat stammt aus dem Kapitel, das gerade nicht von der politischen Linken im heutigen Sinne handelt, wie sie Grigat im Auge hat. Dieser zielt mit seinem Aufsatz ja auf Sozialismus und Kommunismus, auf Marx und seine Nachfolger. Grigat verweist für seine Beurteilung auf Arendts Buch (Arendt 1986, 91), wo Folgendes über Schönerer, den Führer der Deutschen Liberalen Partei, zu lesen steht: Sein Antisemitismus habe sich anfangs „nahezu ausschließlich gegen den Einfluß der Rothschilds“ gerichtet und habe damit als radikale Gesellschaftskritik gewirkt, „so daß gerade diese sozialdemagogische Note ihm in Österreich (zum Unterschied von Deutschland) die Sympathien der Arbeiterbewegung gewann.“ Dem hat Arendt eine Fußnote angefügt, die die Sympathie – nicht der in ihren „strukturell antisemitischen Prämissen“ befangenen Arbeiterbewegung, sondern: – der österreichischen Sozialdemokraten belegen soll. In der Wiener Arbeiterzeitung habe es nämlich 1912 folgende Würdigung des liberalen Antisemiten Schönerer gegeben: „Und wenn wir Flintenschüsse mit ihm wechselten, so würde die Gerechtigkeit doch erfordern, noch während der Salve einzugestehen: er ist ein Mann; jene aber sind alte Weiber.“

Aus dem Zitat (das angeblich eine Bismarck-Äußerung variiert) geht natürlich als Erstes hervor, dass Sozialdemokraten und Liberale in feindlichen Lagern standen und sich bis aufs Messer bekämpften; von einer Übereinstimmung in politischen Auffassungen kann also – zumindest was diesen Beleg betrifft – keine Rede sein. Was hier ausgedrückt wird, ist der persönliche Respekt vor dem politischen Gegner: Als Mensch soll er beeindruckend sein, als Politiker wünschen ihm die Sozialdemokraten den Untergang. Von dieser bürgerlichen Art, im parlamentarischen Umgang den Kontrahenten zu achten, mag man halten, was man will. Eine sachliche Übereinstimmung dokumentiert es gerade nicht.

Interessant an dieser Stelle ist zudem, dass Arendt selber den beklagten Blickwinkel teilt, also streng genommen unter Grigats Verdikt fallen müsste. Arendt schreibt: „Schönerer (war) weder ein Betrüger noch ein Scharlatan noch eigentlich ein Demagoge“ (ebd.). Es folgen Bemerkungen zur Person des liberalen Politikers, die ihn als ehrliche Haut, als einen Menschen, der leidvolle Erfahrungen mit dem Bankhaus Rothschild gemacht habe, charakterisieren, der „niemals die Judenfrage lediglich als eine Propagandawaffe gebraucht“ habe etc. (ebd.). Arendt kann also dasselbe vertreten, was die österreichische Sozialdemokratie praktizierte – menschlichen Respekt vor einem Vorläufer des modernen Antisemitismus äußern –, bei ihr geht das als Einblick in die damaligen Verhältnisse durch, bei Sozialdemokraten ist es ein Beleg für politische Verirrung. Nur nebenbei sei noch bemerkt, dass Arendt (wie so oft in ihrem Text) unbekümmert Widersprüchliches hinschreibt: Zunächst soll der Führer der Liberalen mit der „sozialdemagogischen Note“ seiner Politik Sympathien bei den Linken gewonnen haben, drei Zeilen später heißt es, dass er eigentlich kein Demagoge war…

„War Marx Antisemit?“

So lautete die Überschrift einer Kontroverse, die die Blätter für deutsche und internationale Politik 2014, also noch vor dem bundesweit abgefeierten Marx-Jubiläum, veröffentlichten. Den Aufschlag machte der Erziehungswissenschaftler und Mitherausgeber der Zeitschrift Micha Brumlik mit einem unsäglichen Beitrag, der die Frage rundum bejahte. Unsäglich ist der Beitrag deshalb, weil seine Argumentation im Grunde aus nicht viel mehr als der Wiederholung ein und desselben Zitats besteht, das am Anfang und am Schluss gebracht wird und das gewissermaßen für sich selbst sprechen soll.

Im zweiten Teil des Aufsatzes „Zur Judenfrage“ aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern finden sich, wie Brumlik schreibt, „jene Sätze, die Marx bis heute den Vorwurf des Antisemitismus, des Judenhasses einbringen. Genannt sei hier nur eine Textstelle“ (Brumlik 2014, 114). Bevor diese – wie gesagt zweimal gebrachte Stelle – Thema sein soll, noch ein Wort zur Einleitung und Einkleidung dieser wieder aufgefrischten Denunziation. Brumlik resümiert zur Orientierung den Stand der Judenemanzipation in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, d.h. vor allem das Roll Back gegen die Gleichstellung, die mit den napoleonischen Reformen Einzug gehalten hatte, und skizziert Bruno Bauers Position, der die Gleichberechtigung der Juden im christlichen Staat ablehnte, da sie nur den vorhandenen ein weiteres Privileg hinzufügen würde.

Marx wendete sich nun mit seiner Schrift – explizit – gegen Bauer. Brumlik kommentiert: „Im Streit zwischen Marx und Bauer ging es, wenn man so will, um einen Radikalitäts- und Überbietungsdiskurs innerhalb der linken Hegelianer.“ (Ebd., 118) Dies ist bezeichnend für den Duktus des Textes: „Wenn man so will“, kann man den Aufsatz von Marx so oder anders lesen. Und Brumlik will natürlich die negative Variante, er lässt in dieser Hinsicht keine Möglichkeit aus. Wenn man das nicht will, muss man festhalten: Der Sache nach trennen sich mit den Stellungnahmen des jungen Marx die Wege der Linkshegelianer – was Brumlik übrigens weiß. Marx wendet sich von den alten Bündnisgenossen ab und der Kritik der politischen Ökonomie als der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft zu; er kümmert sich – in seiner theoretischen Stoßrichtung – nicht mehr um die Demokratie- oder Säkularisierungsdefizite des autoritären preußischen Staates. So heißt es bei Brumlik am Schluss der Passage: „Dem Marx der ‚Judenfrage‘ … ging es vor allem darum, das Wesen der Demokratie zu verstehen. Zu diesem Zweck unterzog er – Jahre vor dem Erscheinen des ‚Kapitals‘ – vor allem die Geldwirtschaft einer scharfen Kritik, was zu Basis seiner gesinnungsbezogenen Judenfeindschaft wurde.“ (Ebd., 118f)

Auch das sind merkwürdige Aussagen. Um die Demokratie zu verstehen, soll sich Marx nicht um diese, sondern um etwas anderes, nämlich die Geldwirtschaft – die übrigens vom Kapitalismus unterschieden und älter als dieser ist – kümmern. Wie passt das zusammen? In dem Aufsatz kritisiert Marx, wie jeder nachlesen kann, die republikanische Freiheits- und Gleichheits-Forderung (siehe dazu etwa den Hinweis bei Freerk Huisken). Im „Kapital“ analysiert er den Kapitalismus, wobei dort, wie Brumlik wahrscheinlich zugeben würde, von Judenfeinschaft keine Spur zu finden ist. Aber diese Feindschaft soll gerade die Basis seines späteren theoretischen Bemühens darstellen? Alles zusammen sehr eigenartige Konstruktionen!

Das passt auch nicht mit den anderen Informationen zusammen, die Brumlik in seinem Aufsatz mitteilt. Der endet z.B. mit der Feststellung, dass Marx „weit weniger originell“ gewesen sei, „als man glauben möchte“, denn er habe „seinen vulgärmaterialistischen Reduktionismus des Judentums schlicht aus Ludwig Feuerbachs Schrift über das ‚Wesen des Christentums‘ aus dem Jahr 1841 übernommen“ (ebd., 120). Es folgt dazu ein Feuerbach-Zitat: „Die Juden haben sich in ihrer Eigentümlichkeit bis auf den heutigen Tag erhalten. Ihr Prinzip, ihr Gott ist das praktischste Prinzip von der Welt – der Egoismus, und zwar der Egoismus [in] der Form der Religion.“ Damit variiert Brumlik Arendts Urteil, Marx hätte wie Börne Positionen der radikalen kleinbürgerlichen Franzosen übernommen bzw. eine innerjüdische Kontroverse fortgeführt, wobei Arendt (s.o.) immerhin noch darauf hinweist, dass dies eben nicht unter die Rubrik Antisemitismus fällt, wie er heute verstanden wird, sondern zu seiner Vorgeschichte gehört. Solche Differenzierung unterlässt Brumlik, legt sogar noch mit dem Vorwurf des „Vulgärmaterialismus“ nach. Marx war also ein Radikalinski, der andere links überholen wollte, im Grunde aber von ihnen abschrieb, deren Vulgärmaterialismus reproduzierte, also überhaupt nicht über sie hinausging etc. [2]

Es passt z.B. auch nicht mit dem Anfang von Brumliks Aufsatz zusammen, wo aus einem Brief von Marx an Arnold Ruge vom 13. März 1843 zitiert wird. Marx schrieb aus Köln nach Paris: „Soeben kömmt der Vorsteher der hiesigen Israeliten zu mir und ersucht mich um eine Petition für die Juden an den Landtag und ich wills tun. So widerlich mir der israelitische Glauben ist, so scheint mir Bauers Ansicht doch zu abstrakt. Es gilt so viel Löcher in den christlichen Staat zu stoßen als möglich und das Vernünftige, so viel an uns, einzuschmuggeln. Das muß man wenigstens versuchen – und die Erbitterung wächst mit jeder Petition, die mit Protest abgewiesen wird.“ (Brumlik 2014, 113) Der Brief dokumentiert, dass es haltlos ist, dem jungen Marx Judenfeindschaft zu unterstellen. Ihm ist der israelitische Glaube zuwider, nicht das Anliegen, sich aus politischer Unterdrückung zu befreien. Jeder, der lesen kann, muss das als Ergebnis festhalten. Brumlik bringt sogar noch ein weiteres Zitat von Marx und Engels aus der „Heiligen Familie“, in dem die beiden Autoren erläutern, wie die früheren Aussagen im „Judenfrage“-Aufsatz zu verstehen sind. Dazu schreibt Brumlik: „Ein Jahr später klingt diese Meinung schon weniger drastisch“ (ebd., 114). Es wird also gleich wieder die Erläuterung, wie die Aufhebung des Judentums gemeint ist, in eine Relativierung des ursprünglichen Antisemitismus uminterpretiert.

Marx und Engels halten dagegen in dem besagten, von Brumlik zitierten Text, der ihre Auseinandersetzung mit den Junghegelianern fortsetzt, zur Klarstellung fest, „daß die Aufgabe, das jüdische Wesen aufzuheben, in Wahrheit die Aufgabe sei, das Judentum der bürgerlichen Gesellschaft, die Unmenschlichkeit der heutigen Lebenspraxis, die im Geldsystem ihre Spitze erhält, aufzuheben“ (MEW 2, 116). Klarer kann man dem Antisemitismus-Missverständnis nicht entgegentreten. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass die Klassiker von dessen politischer, d.h. rassistischer Wucht keine Ahnung hatten und Anfang der 1840er Jahre auch nicht haben konnten. Aber so weit damals Judenfeindschaft existierte, sind Marx und Engels, die in drei Abschnitten der „Heiligen Familie“ („Zur Judenfrage, Nr. I-III“, MEW 2) auf den früheren Aufsatz zurückkommen, dem Missverständnis entgegengetreten, sie wollten eine bestimmte Volksgruppe angreifen und nicht das Kapital.

Jetzt also die alles begründende Stelle aus dem Aufsatz von 1844. Brumlik zitiert Marx (Brumlik 2014, 114): „Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich notwendig auflösen muß. Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.“ Brumlik fährt fort: „Das Judentum aber reduziert sich für Marx in dieser Schrift auf die moderne Geldwirtschaft: ‚Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein anderer Gott bestehen darf‘“. Das soll der ganze Beweis sein. Bei der Wiederholung des Zitats gibt es dann noch den Kommentar, dass Marx „die Gesellschaft der Geldwirtschaft wiederum mit dem Judentum“ (ebd., 119) gleichsetze. Hier wird dann noch erwähnt, dass sich Marx dadurch in Übereinstimmung mit den „französischen Frühsozialisten“ (ebd.) befunden habe. Dabei hatte Brumlik kurz vorher noch festgestellt, dass sich Marx mit seinen frühen Texten zur Kritik der politischen Ökonomie hinarbeite, wo diese Gleichsetzung bekanntlich keine Rolle spielt. Trotzdem erfolgt das Resümee: „Auch Marx … unterlag diesem Kurzschluss“, nämlich der Gleichsetzung, und habe so „eine reduktionistische, nein: nicht Kritik, sondern hasserfüllte Verächtlichmachung des Judentums“ (ebd.) betrieben.

Fazit

Man kann nur über die Interpretationskunststücke eines Wissenschaftlers staunen, der sich immerhin als Marx-Kenner versteht. Wenn in der hegelianischen Tradition von der Aufhebung des Judentums, von der Emanzipation der Menschheit vom Judentum die Rede ist, dann ist damit nicht dessen Ausrottung gemeint. Marx hat sich auch nicht selber ausgelöscht, um diesen Schritt zu gehen. Es handelt sich um ein gewolltes, groteskes Missverständnis. Marx kritisiert den Standpunkt einer bürgerlichen, „politischen“ Emanzipation, die sich mit dem Status des anerkannten Staatsbürgers zufrieden gestellt sieht. Bauers Art der Zurückweisung des jüdischen Antrags lehnt Marx ab, er nimmt nicht wie dieser die vollwertige staatsbürgerliche Gleichheit zum Maßstab, um eine solche Forderung zu beurteilen.

Praktisch-politisch unterstützt Marx das Petitionsvorhaben der jüdischen Gemeinde mit der Forderung nach Gleichberechtigung; er sieht im christlichen Staat einen Feind, den es zu überwinden gilt, und hält – mit einem eigenartigen Argument – das Einreichen von Bittschriften für einen politischen Lernprozess. Als generelle Zielsetzung will er das allerdings nicht mittragen, der vollendete bürgerliche Staat könne nicht das Endziel sein. Der Aufsatz über die Judenfrage entwickelt dazu als theoretische Grundlage den Unterschied von Bourgeois und Citoyen. Die bloß politische Emanzipation, die sich des Citoyens annimmt, lasse das Kritikable der bürgerlichen Gesellschaft bestehen; auf die habe sich aber, damit eine vernünftige Praxis, eine „menschliche Emanzipation“ zustande kommt, das theoretische Augenmerk zu richten – Marx entscheidet sich ja zu diesem Zeitpunkt, angestoßen durch Engels, die Kritik der politischen Ökonomie zu seiner Sache zu machen.

Diese Orientierung schlägt er auch den Juden vor, die mit den „Deutschen Zuständen“ (so der Titel der polemischen Artikelreihe von Engels aus der selben Zeit) unzufrieden sind. Anerkennung der religiösen und völkischen Besonderheiten verwirft er, dagegen setzt er Religions- und Ökonomiekritik. Insofern will er nicht das Judentum fördern – das stimmt –, sondern fordert die Juden dazu auf, sich an der allgemeinen menschlichen Emanzipation zu beteiligen. Und das ist alles andere als Antisemitismus.

Im zeitgenössischen Judentum erkennt Marx den jüdische Schacher als Hindernis; das ist keine Verunglimpfung, sondern die Feststellung der überlieferten jüdischen Sonderrolle, die auf die Sphäre von Handels- und Geldgeschäften konzentriert war. Daraus entwickelte sich ja bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts die starke Stellung jüdischer Banken. Das jüdische Kreditgeschäft, das bereits im Absolutismus eine führende Rolle bei der Staatsfinanzierung errungen hatte, geriet so bei radikalen bürgerlichen Kreisen ins Visier der Kritik. Auf diese Kritik bezog sich Marx. Er blieb aber nicht bei ihr stehen. Er rückte gerade nicht eine bestimmte Sphäre des Kapitalismus mit ihren – temporären – ethnischen Besonderheiten in den Mittelpunkt, machte nicht das Finanzgeschäft zur Basis seiner Analyse. Im Gegenteil.

Was er endlich nach jahrzehntelangen Studien als sein Hauptwerk vorlegte, ist eine Kritik der kapitalistischen Produktionsweise. Hier figuriert das Personal nur als „Charaktermaske“, als Personifikation ökonomischer Funktionen, und wird in dieser Hinsicht, also als deren Exekutor, zum Gegenstand der Kritik. Basis dieser Funktionen ist dabei nicht das Geld- und Handelskapitel. Beide thematisiert Marx im dritten Band des „Kapital“ als abgeleitete Größen, die sich aus der Bestimmung der kapitalistischen Warenproduktion ergeben. Die in dieser enthaltene Zwecksetzung, den Wert und dessen Verwertungsprozess zum Maßstab der Versorgung mit Gebrauchsgegenständen zu machen, greift Marx an. Die kleinbürgerliche und frühsozialistische Wendung gegen das Wucherkapital hat Marx damit definitiv hinter sich gelassen. Und der Aufsatz „Zur Judenfrage“, in dem er sich auf die einschlägigen Topoi vom jüdischen Schacher einlässt, ist genau der Schritt dahin, die Vermengung der Kapitalismuskritik mit dem Angriff auf profitgierige Personen zu beenden.

Anmerkungen

1 Edmund Silberner ist z.B. ein Vertreter dieser These. Heute wird sie meist als ungehörig angesehen, da damit jüdische Haltungen selber als „antisemitisch wirkend gewertet“ würden – so Wikipedia.

2 Worin der Vulgärmaterialismus Feuerbachs bestehen soll, ist auch nicht ersichtlich. Es geht anscheinend nur darum, der Religionskritik des materialistischen Philosophen (und damit deren Epigonen Marx) einen weiteren Vorwurf reinzureichen – ganz nach Brumliks Devise des „wenn man so will“. (Derselbe Vorwurf wurde übrigens schon von Silberner erhoben, der auch die Behauptung vom Überbietunsgdiskurs, die Gegenüberstellung der Zitate von 1844 mit der „Heiligen Familie“, den Brief an Ruge etc. brachte, vgl. z.B. Silberner 1962, 124, 126, 127.) Feuerbach behandelt an der besagten Stelle den Unterschied von jüdischem Monotheismus und griechischem Polytheismus sowie die weitere Entwicklung. Der „jüdische Schacher“ ist hier nicht das Hauptthema. Das von Brumlik angeführte Zitat geht so weiter: „Der Egoismus ist der Gott, der seine Diener nicht zuschanden werden läßt. Der Egoismus ist wesentlich monotheistisch, denn er hat ja nur eines, nur sich zum Zweck. Der Egoismus sammelt, konzentriert den Menschen auf sich; er gibt ihm ein konsistentes Lebensprinzip.“ (Feuerbach 1984, 210) Dieser religiöse Egoismus wird nicht moralisch klassifiziert – wie es in der kleinbürgerlichen Kritik am Schacher geschieht –, sondern ähnlich wie bei Hegel als notwendige Stufe im religiösen Entwicklungsgang genommen. Im selben Kapitel finden sich dann einige Seiten später die einschlägigen Sätze Feuerbachs, die seine Religionskritik berühmt gemacht haben: „Erst schafft der Mensch Gott nach seinem Bilde, und dann erst schafft wieder dieser Gott den Menschen nach seinem Bilde. Dies bestätigt vor allem der Entwicklungsgang der israelitischen Religion. Daher der Satz der theologischen Halbheit, dass die Offenbarung Gottes gleichen Schritt mit der Entwicklung des Menschengeschlechts hält. Natürlich; denn die Offenbarung Gottes ist nichts andres als die Offenbarung, die Selbstentfaltung des menschlichen Wesens.“ (Ebd., 215) Marx, von dem übrigens der Vorwurf des Vulgärmaterialismus stammt – bei Feuerbach sah er einen ahistorischen Materialismus am Werk –, hat solche Überlegungen seiner eigenen Religionskritik zu Grunde gelegt. Diese besteht ja vor allem darin, die philosophische Kritik an der Religion, die bis zu den Junghegelianern einschließlich Feuerbach geleistet wurde, zu resümieren.

Literatur

  • Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft (1951). München 1986.
  • Micha Brumlik, Karl Marx: Judenfeind der Gesinnung, nicht der Tat – War Marx Antisemit? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 7, 2014, S. 113-120.
  • Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Gesammelte Werke, Band 5. Berlin 1984.
  • Stephan Grigat, Antisemitismus und Antizionismus in der Linken. HaGalil.com – Jüdisches Leben online, 18.4.2002, http://www.hagalil.com/antisemitismus/europa/linker-antisemitismus.htm#_ftn1.
  • Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage – Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914. Berlin 1962.

Marx – biographisch erschlossen?

IVA hat das Jubiläums-Jahr 2018, als der 200. Geburtstag von Marx gefeiert wurde, mit verschiedenen Beiträgen begleitet. Hier einige Nachträge der IVA-Redaktion.

Bei IVA gab es 2017 bis 2018 die Reihe „Marx is back“, Vol. 1-10, deren Zielsetzung bei Telepolis mit der (leider nach einigen Folgen abgebrochenen) Reihe „Was bleibt von Marx?“ fortgeführt wurde. Es war ein Versuch, die seit der „Marx-Renaissance“ aufgekommene Neubefassung mit dem Urheber der wissenschaftlichen Kapitalismuskritik auf eine sachliche Schiene zu bringen.

Dies war und ist weiterhin nötig. Marx wurde mit dem Jubiläumsrummel zum Opfer einer biographischen Mode, die die Auseinandersetzung mit seiner theoretischen Leistung in eine Begutachtung der Lebensführung auflöste. Zur Kritik der – weit gehend aufs Feuilleton beschränkten – Rückblicke hier einige Nachträge, die antikommunistischen Zerrbilder betreffend.

Marx – als Mensch und Unmensch

Schon immer sind in den Marx-Würdigungen die persönlichen Lebensverhältnisse ins Visier geraten, bot sich doch damit die Gelegenheit, die Befassung mit der Theorie zu umgehen. So lernte man Marx als gescheiterte bürgerliche Existenz, als unfähigen Familienvorstand, als tyrannischen Vater oder als Rassisten, Sexisten, Antisemiten kennen. Der neuerliche Rekurs hat zwar die Theorie nicht ganz ausgeklammert, gelegentlich sogar deren Relevanz betont. Eindeutig im Vordergrund stand aber das biographische Interesse, das dann zu aufwändigen Gesamtdarstellungen von Lebenslauf und Zeitumständen führte. Sogar der Marxist Michael Heinrich startete 2018 eine biographische Publikation, deren zweiter Band, zunächst für 2021 angekündigt, 2025 folgen soll.

Auch dann, wenn akademische Studien vorgelegt wurden, die die Bedeutung der marxistischen Tradition fürs jeweilige Fach hervorheben, fühlten sie sich meist bemüßigt, der Personalisierung Reverenz zu erweisen. Ein Beispiel ist neben dem „Marx-Handbuch“ die Einführung für die Sozialwissenschaft von Ingrid Artus und Kollegen – eine Schrift, die Marx theoretische Aktualität bescheinigte und sich explizit „in die Renaissance seiner Kritik der politischen Ökonomie“ einreihen wollte (Artus u.a. 2014, 2). Die Soziologie-Professorin Artus hielt es dabei für unabweisbar, auch der Leserschaft den Menschen Marx vorzustellen, und zwar deshalb, weil das „menschliche Denken wesentlich geprägt ist von den materiellen Produktionsbedingungen seiner Zeit“. (Ebd., 7f)

Mit dieser Bemerkung bezog sich die Autorin auf Marx selbst, der in der „Deutschen Ideologie“ oder im berühmten Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ den Zusammenhang von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein thematisiert hatte. Demzufolge müsse man festhalten, so Artus, „dass der Mensch im wesentlichen durch seine Produktionsbedingungen geprägt sei“ (ebd., 14). Das gelte auch für den Klassiker der Kapitalismuskritik: „Ein Verständnis seiner Ideen“ sei „ohne Kenntnis der Biographie von Karl Marx und des Zeitgeistes, der ihn beeinflusste, nicht möglich“ (ebd., 8).

Es ist indes gewagt, sich für die Entscheidung zum biographischen Vorgehen auf Marx zu berufen. Marx, der sich mit Adam Smith, David Ricardo und zahllosen anderen Theoretikern aus Ökonomie oder Philosophie auseinandersetzte, verzichtete z.B. darauf, den Leser mit der Lebensgeschichte der Betreffenden zu behelligen. Wenn diese politisch oder sonstwie agierten, kommen die Fakten vor, aber dann sprechen sie für sich und sind nicht der Schlüssel zum Werk; wenn sich aus Letzterem Hinweise auf die Lebensumstände der Urheber ergeben, dann ist das Marx vielleicht eine Fußnote wert. In ihrem einleitenden Beitrag zu dem genannten Sammelband bietet Artus dann ein Porträt von Marx, das Stationen von Leben und Werk Revue passieren lässt und sich auch dem Privat-, z.B. Familienleben des Theoretikers zuwendet. Die Wissenschaftlerin hat dazu keine eigenen Forschungen angestellt, sie bezieht sich u.a. auf Eva Weissweilers Biographie der Lieblingstochter von Marx und behandelt dieses Buch als seriöse Auskunftsquelle. Das ist erstaunlich!

Sexismus und „wütender Antisemitismus“

Weissweilers Biographie „Tussy Marx“ ist erkennbar gegen Marx als Person geschrieben. Sie will, so die Ankündigung des Klappentextes, „eine Fülle unbekannter Details aus dem Leben und Wirken von Karl Marx – etwa über seinen wütenden Antisemitismus“ liefern. Neben der „Judenfrage“ ist die „Frauenfrage“ der zweite große Angriffspunkt. Wie der Untertitel vom „Drama der Vatertochter“ bereits erkennen lässt, ist es der Vater, der der Tochter das Leben schwer macht. Ein Glück für Marx, dass die Biographin in Edward Aveling, dem späteren Partner von Eleanor, genannt „Tussy“, einen üblen Kerl gefunden hat, der das Leben von Marxens jüngster Tochter ruinierte und sie in den Selbstmord trieb. So trifft den Vater nicht die volle Schuld, wenn es um das – letztendlich – verpfuschte Leben einer großartigen Frau geht.

Mit dieser Entscheidung zu einer Biographie, die nicht den intellektuellen Entwicklungsgang, sondern die persönlichen Verstrickungen ins Visier nimmt, ist natürlich klargestellt, dass die Theorie für sich genommen nicht interessiert. Es interessiert die persönliche Aufführung. Es geht um einen Blick auf die Privatsphäre, auf den Familienmenschen, den „übermächtigen“ Vater – und zwar durch das Porträt der Tochter hindurch, dieser „begabten und unglücklichen Frau“ (Klappentext). Mehr braucht man eigentlich über ein solches Unterfangen nicht zu wissen – Leser unter Zeitdruck können hier also Schluss machen. Aber die theoretische Leistung von Marx ganz beiseite lassen – das will das Buch dann doch nicht. Gerade der gewählte Blickwinkel soll in dieser Hinsicht Einblicke und Einsichten liefern.

Die Theorie von Marx ist demnach erstens ein hochkomplexes, kaum greifbares Gebilde, was nicht direkt abwertend gemeint ist, sondern auch mit einem gewissen Respekt vorgetragen wird. Thema wird das z.B., als sich Tussy nach dem Tod ihres Vaters daran macht, eine Kurzfassung der Mehrwerttheorie für eine englische Zeitschrift zu verfassen. Der Text sei, so Weissweiler, misslungen, musste misslingen, denn: „Das ganze, hochkomplizierte Marxsche Gedankengebäude, gespeist aus Philosophie, Mathematik, Nationalökonomie, Geschichte und vielen anderen ‚Hilfswissenschaften‘ lässt sich nicht auf ein paar Zeitungsseiten reduzieren.“ (Weissweiler 2002, 180f) Tussys Versagen wird von der Biographin entschuldigt. Die Schuld für das missglückte Unternehmen liege bei Aveling, der die Marx-Tochter zur Abfassung drängte – und das angesichts der Tatsache, dass sie „keine Theoretikerin, keine Nationalökonomin, sondern eine Frau des lebendigen, erzählenden Wortes“ war.

Die Theorie des Vaters ist also keine Sache des lebendigen Wortes. Sie gehört in die Studierstube oder das Seminar, ihre Verbreitung über die Medien ist unmöglich. Worin das spezielle Desaster des Aufsatzes bestehen soll, führt Weissweiler aber nicht aus. Sie resümiert bloß allgemein, Tussy versuche einen „lockeren Ton anzuschlagen… Doch sie verheddert sich in dem symbolischen Garn, das sie auslegt, verstrickt sich in Widersprüche, vermag nicht zu überzeugen. Am Ende hat der Leser oder die Leserin zwar verstanden, daß der Fabrikherr durch die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft Reichtümer ansammelt, aber die Mehrwerttheorie ist immer noch nicht plastisch geworden.“ Seltsam! Wenn der Aufsatz die Reichtumsvermehrung, also den Sachverhalt der Ausbeutung, verständlich macht – wie Weissweiler behauptet –, dann muss doch in irgendeiner Form die Mehrwerttheorie von Marx im Text ausgeführt worden sein. Die betreffende Theorie hat ja gerade die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft zum Inhalt. Im Endeffekt bleibt es jedoch bei einer Charakterisierung der Marxschen Ökonomiekritik als weltfremd und abgehoben: Selbst die Tochter und langjährige Assistentin des Urhebers war nicht in der Lage, sie anderen Menschen zu vermitteln…

Zweitens aber und entscheidend: der Antisemitismus. Hier argumentiert die Biographin besonders perfide. Sie weiß, dass sich die Arbeiterbewegung von Anfang an programmatisch für den Internationalismus aussprach und sich später z.B. gegen den neu formierten, politischen Antisemitismus stellte. Der Bewegung ging es um Klassen-, nicht um Rassenkampf. Sie folgte zu dieser Zeit (zumindest noch im Programmatischen) der Parole „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“, wie sie im Kommunistischen Manifest formuliert war. Weissweiler referiert auch entsprechende Beschlüsse, so der Gründungskonferenz der II. Internationale von 1889, bei der Vertreter der jüdischen Arbeiterbewegung, die aus den USA angereist waren, begeistert begrüßt wurden. „‚Bravo!‘ ruft die Mehrzahl der Delegierten. ‚Bravo!‘ ruft wahrscheinlich [!] auch Tussy, wenn auch mit leicht melancholischem, nachdenklichem Unterton [!]. Undenkbar, daß sie bei diesem Vortrag nicht an die Schrift ihres Vaters ‚Zur Judenfrage‘ gedacht haben sollte [!], vielleicht auch an das Pamphlet ‚Herr Vogt‘ mit seinen obszönen Angriffen auf den Chefredakteur des ‚Daily Telegraph‘, Moses Joseph Levy.“ (Ebd., 264)

Der Rückschluss aufs Programm

Die programmatischen Positionen sollen also durch persönliche Verdächtigungen grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die Methode besteht darin, in die Biographie der Marx-Tochter eine Problematik hineinzulesen, nämlich einen tiefgreifenden Vater-Konflikt, der ihr Leben geprägt habe. Durch Zeugnisse aus der damaligen Zeit belegt ist das nicht, genau so wenig wie der „melancholische Unterton“ und was sonst durch Gedankenlesen ‚erschlossen‘ wird. Das von Weissweiler referierte Material belegt eher das Gegenteil. Tussys späteres Engagement für die jüdischen Arbeitervereine in London oder für die jüdische Autorin Amy Levy zeigen, dass sich die Tochter nicht von ihrem Vater distanzierte, ihre Arbeit vielmehr in dessen Nachfolge stellte.

„Tussy sah im Juden nur den Verfolgten, den sozial Geächteten, den Vertreter eines Volkes, dessen Erbe ihr Vater in sich auslöschen wollte“, zitiert Weissweiler aus dem zeitgenössischen Porträt des jüdischen Journalisten Max Beer (ebd., 292). Wie die Protagonisten der Arbeiterbewegung fühlte sich Tussy solidarisch mit dem Proletariat, mit den Ausgebeuteten jedweder Nationalität. Den armen jüdischen Arbeitern fühlte sie sich wohl besonders nahe, weil sie aus derselben Minorität stammte. Sich zum Judentum zu bekennen, war für sie kein ethnisches Anliegen, sondern ein soziales. „Wir Juden haben eine besondere Pflicht, für die Arbeiterklasse zu wirken“, zitiert Weissweiler Tussy (ebd., 289) [1]. Zum Judentum als nationalreligiöser Bewegung hielt sie, wie die Biographin vermerkt, dagegen Distanz. Die atheistisch-materialistische Position ihres Vaters zu revidieren, kam für sie nicht in Frage.

Tussy übersetzte, ein von Weissweiler ausgiebig zitiertes und strapaziertes Beispiel, den Roman „Ruben Sachs“ von A. Levy ins Deutsche und kümmerte sich um eine Veröffentlichung im sozialdemokratischen Verlagswesen Deutschlands. In dem Roman werden, wie Weissweiler referiert, zwei Positionen der jüdischen Intelligenz aus der besseren Gesellschaft einander gegenübergestellt: die sozialistische, also von Marx inspirierte Position eines jungen Mannes, der den Geschäftssinn seiner Familie verachtet, und die des eher tragischen Titelhelden und Politkarrieristen Ruben Sachs, der der jüdischen „Rasse“ die Treue halten will. Letzterer wendet gegen den Sozialisten und dessen Absage an die Verbundenheit mit dem Judentum ein: „Der Jude wird sich immer zum Juden hingezogen fühlen, mit welchem Namen er sich immer nennen mag.“ (Ebd., 295) Hier hat man also das eine Mal den Standpunkt der Klasse bzw. ihrer Solidarität vor sich und das andere Mal eine völkische Position, die die Zugehörigkeit zur eigenen „Rasse“ als das Bestimmende hochhält, von dem man sich nicht lossagen kann. Damit greift der Roman eine Politisierung auf, wie sie damals in der jüdischen Bevölkerung Europas anzutreffen war: Die einen gehen den Weg des Internationalismus, des Marxismus, die anderen schlagen den des Nationalismus, des Zionismus ein (den Marx natürlich noch nicht im Blick hatte). Der erstere ist gerade nicht der Weg des Antisemitismus. Dieser neu aufkommenden, nicht mehr christlich-religiös, sondern national-rassisch begründeten Judenfeidschaft stellt sich der Internationalismus der Sozialisten konsequent entgegen, er stellt sich aber auch gegen die jüdische Bourgeoisie – die übrigens in dem Roman von Levy ähnlich angegriffen wird wie in Marxens berühmtem Text „Zur Judenfrage“ (1844).

Die Übereinstimmung muss sogar Weissweiler einräumen (ebd., 297), die das störende Faktum zu einem Problem der Rezeption umdeutet: „Es ist sogar zu befürchten, daß er von vielen, die ihn oberflächlich gelesen haben, als Bestätigung des eigenen ‚sozialistischen Antisemitismus‘, als weiterer Beleg für die alte Karl-Marx-These, daß Judentum mit ‚Ausbeutung‘ und ‚Kapital‘ gleichzusetzen sei, empfunden wurde.“ Der Roman bestätigt also gerade – folgt man dem Referat von Weissweiler –, dass die Behauptung vom „sozialistischen Antisemitismus“ unzutreffend ist, dass vielmehr in jüdischen Kreisen Ende des Jahrhunderts die eigene Bourgeoisie als Zielscheibe der Kritik fungierte, dass junge Intellektuelle sie wie früher Börne oder Marx wegen ihres Schachers, ihrer Heuchelei etc. angriffen und dass einem jüdischen Publikum diese sarkastische Selbstbespiegelung zur literarischen Erbauung angeboten wurde (bei der sich Weissweiler übrigens an Woody Allen erinnert fühlt – man sieht, mit welcher Brille die Autorin auf die damaligen Verhältnisse blickt!).

Weissweiler zitiert auch das berühmte Statement von Engels aus dem Jahr 1890 gegen den Antisemitismus: Dieser sei „das Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur…“ (ebd., 278). Sie weiß also, dass die Arbeiterbewegung eindeutig Stellung bezog. Aber alles Spätere muss angeblich auf den ursprünglichen Antisemitismus von Marx bezogen werden, der dann nachträglich abgeschwächt, revidiert, unterdrückt etc. worden sei – im Falle Engels‘ dank Tussys Intervention, so die Unterstellung. Das ganze Konstrukt hängt damit an der eingangs getroffenen Behauptung, dass Marxens Aufsatz „Zur Judenfrage“ antisemitisch ist, und an den nachfolgenden Mutmaßungen, bei Tussy habe diese Positionierung zu einem inneren Konflikt geführt.

„Zur Judenfrage“

Die Einführung der Antisemitismus-These begründet Weissweiler mit folgender Interpretation des Marx-Aufsatzes: „In der ‚Judenfrage‘ kommen nur zwei Typen von Juden vor: der rückständige, einer ‚chimärischen‘ Religion verbundene ‚Sabbatjude‘, der, obwohl nicht integrationswillig und im selbstgewählten Ghetto lebend, staatsbürgerliche Gleichberechtigung für sich reklamiert; und der jüdische Ausbeuter, der Kapitalist, der nur einen Gott für sich anerkennt: das Kapital und den Schacher.“ (Ebd., 264) Weissweiler vermisst in dem Text speziell die Anerkennung jüdischer Kunst und jüdischen Intellekts. Marxens antisemitisches Wüten soll also primär darin bestehen, dass er die Breite und Vielfalt jüdischen Lebens missachtet. Er kenne neben dem frommen Juden nur den Bourgeois, der Rest fehle. Weissweilers Resümee: „Das heißt konkret: das Judentum kann gar keinen Künstler, keinen Historiker, keinen Theoretiker hervorbringen und im Grunde auch keinen echten Sozialisten – mit einer einzigen Ausnahme, Karl Marx, der es aber für sich ablehnt, Jude zu sein[,] und seine Herkunft verdrängt hat.“ (Ebd., 265) Vom Können ist bei Marx freilich nicht die Rede, und sein Freund Moses Hess, „der erste Kommunist in Deutschland“ (Silberner 1962, 181), wäre ja schon ein erstes Gegenbeispiel, die Behauptung vom eigenen Ausnahme-Status ist eine reine Erfindung der Biographin.

Was entscheidend ist: Marxens Argumentationsgang wird hier in sein Gegenteil verkehrt. Der Aufsatz will, wie auch aus seinem Rezensions-Charakter – nämlich der Reaktion auf zwei Schriften Bruno Bauers zur Forderung der Judenemanzipation – hervorgeht, gar keine Bestandsaufnahme der jüdischen Lebenssituation zu Beginn des 19. Jahrhunderts liefern. Er ist eine Kritik an einem politischen Programm, das von Vertretern jüdischer Gemeinden verfolgt wurde und das auf die staatsbürgerliche Anerkennung zielte. Genauer gesagt: Er ist ein Reaktion auf Bauers – ablehnende – Stellung zu diesem Programm und ein Plädoyer dafür, diese Emanzipationsforderung in eine internationalistische, antikapitalistische Richtung zu lenken. Er ist, im Blick auf die praktische Konsequenz formuliert, das Plädoyer dafür, dass die Juden sich wie alle anderen dem Sozialismus anschließen sollen – so wie es viele aus der jüdischen Intelligenz (z.B. in Marxens Freundeskreis) taten. Und in dem Moment, als in den 1880er Jahren eine eigene jüdische Arbeiterbewegung auf den Plan trat, wurde sie von Tussy, Engels und der Internationale folgerichtig begrüßt.

Weissweiler sind diese Fakten im Grunde bekannt. Sie setzt auch etwas anders an als die übliche Verballhornung des Marx-Aufsatzes von 1844, die ihm die Auslöschung des Judentums als Absicht unterstellt (so etwa bei Micha Brumlik – aber das wäre ein eigenes Kapitel). Weissweiler fährt nach ihrer negativen Charakterisierung des Marx-Textes fort: „Es gibt viele Stimmen, die diese Schrift anders interpretieren, als nicht antisemitisch, ja sogar als progressiv. Es gibt meterweise Literatur über den ‚sogenannten‘ Marxschen Antisemitismus, der in Wirklichkeit nur Atheismus und Anti-Kapitalismus sei. Doch es geht hier nicht darum, diese Stimmen zu würdigen und zu zitieren. Es geht um den Eindruck, den die Abhandlung auf Tussy, die Tochter, gemacht hat, und der muß [!] – jenseits aller späteren Theoriebildung – niederschmetternd gewesen sein, einen schweren Loyalitätskonflikt, schlimme Verwirrungen ausgelöst haben. Wie bewältigt sie diese Verwirrungen? Welche Mittel und Wege findet sie, auf ihre jüdische Herkunft stolz zu sein und den Vater trotzdem zu lieben? Indem sie die Juden zum Sozialismus bekehrt, sie von der ‚Religion‘ ihres Vaters überzeugt, sich mit jüdischen Proletariern, jüdischen Künstlern anfreundet, mit Menschen, die weder ‚orthodox‘ noch dem ‚Schacher‘ verfallen sind. Mit genau denen, die ihr Vater ‚vergessen‘ hat, vielleicht, weil er es nicht besser wußte, denn die Masseneinwanderung jüdischer Flüchtlinge aus dem Osten begann ja erst in den achtziger Jahren, also nach seinem Tod. Auch ihn hätte dieses Elend nicht unberührt gelassen. Auch er hätte sich auf ihre Seite geschlagen. Diese Entschuldigung muß [müsste?] sie für ihn gelten lassen. Sonst könnte sie ihn nicht mehr lieben. Sonst würde sie verrückt.“ (Weissweiler 2002, 265)

Ja, so muss es gewesen sein, sonst würde die Konstruktion der Biographin in sich zusammenbrechen. Bemerkenswert, dass solche Hypothesen im Klappentext damit angepriesen werden, hier gäbe es „eine Fülle unbekannter Details aus dem Leben und Wirken“ des alten Antisemiten Marx zu entdecken. Kein einziges der in diesem Kontext vorgestellten Fakten dürfte ein unbekanntes Detail sein. Für den behaupteten Loyalitätskonflikt werden sowieso keine Belege geboten. Aus keinem der mitgeteilten Details geht hervor, dass die Aufnahme der jüdischen Arbeiterbewegung durch die Internationale als Kurswechsel betrieben oder empfunden wurde. Im Gegenteil, sie wurde hoffnungsvoll als Wachsen der Bewegung verzeichnet. Der Eindruck, den Marxens „Abhandlung auf Tussy gemacht hat, muß niederschmetternd gewesen sein“. Es muss so sein, weil die Biographin es so sehen will. Es ist eine Schlussfolgerung, die nur durch Weissweilers Unterstellung Plausibilität erhält, der frühe Aufsatz sei antisemitisch gewesen und habe die Tochter innerlich belastet.

Tiefe Blicke in die jüdische Seele

Dass das kein sachlicher Befund ist, deutet Weissweiler übrigens selber an. Es gibt „meterweise Literatur“, wie sie mitteilt, die den Antisemitismusvorwurf zurückweist. Folglich hätten sich – könnte man erwarten – alle Bemühungen auf die Beantwortung der Frage zu konzentrieren, was denn nun stimmt: die Zurückweisung oder der Vorwurf. Die Biographin tut so, als würde sie sich aus dieser Frage heraushalten, obwohl sie sie vorentschieden hat. Statt eine der Thesen aus der umfangreichen Literatur zu diskutieren, untersucht sie, wie Tussy mit einem persönlichen Problem klar gekommen ist, das ihr – ex post – angetragen wird. So beginnt ja auch schon der Einstieg zu dem Thema (ebd., 264) mit Unterstellungen: von den Bemerkungen über den mutmaßlich melancholischen Ton bei Tussys Bravo-Ruf bis zu den unvermeidlichen Erinnerungen, an denen die Tochter gelitten haben „muss“…

Der innere Konflikt, das Drama der jüdischen Vatertochter, ist also eine biographische Konstruktion [2], mit der – von heute aus, nach den Erfahrungen der Judenverfolgung des 20. Jahrhunderts – ein Blick auf diese Family Affair des 19. Jahrhundert geworfen werden soll. Weissweiler konzediert selber, dass die These von der Marxschen Missachtung des jüdischen Proletariats nicht zu halten ist, da Letzteres in nennenswertem Umfang erst nach Marxens Tod in Erscheinung trat. Und Weissweiler dürfte auch wissen, dass Marx mit jüdischen Intellektuellen und Künstlern befreundet war. Den Freund Heine hat er sogar explizit in seinem Hauptwerk, dem „Kapital“, gewürdigt. Die vielen persönlichen Kontakte führten natürlich auch zu vielerlei Reibereien. Dass Marx sich über Freund und Feind – vor allem im Briefwechsel mit Engels – in drastischen Worten ausließ, die der heutigen Political Correctness nicht entsprechen, stimmt. In diesem Zusammenhang muss man aber erstens festhalten, dass diese Ausfälle in der privaten Korrespondenz stattfanden, kein öffentliches Statement darstellten; und dass zweitens solche Angriffe in der Öffentlichkeit dann gestartet wurden, wenn Marx in entsprechende Kontroversen verwickelt war und zum Gegenschlag ausholte.

Persönliche Angriffe gab es gegen die Arbeiterbewegung und ihre Protagonisten nämlich zuhauf, speziell als Polemik gegen den Juden Marx und den Kreis seiner Genossen. „Die erste antisemitische Schmähschrift auf Marx veröffentlichte“ 1850 der Journalist Eduard von Müller-Tellering (Silberner 1962, 128): Marx, „der feige, Blutsäure knirschende Jude“, habe ein „rachedurstiges, von der verworfensten Malice durchnadeltes Judenherz“, er und sein Gefährte Engels seien „Schurken und Arbeiterexploiteurs“ (ebd., 322). 20 Jahre später kamen solche wütenden Beschimpfungen z.B. aus der Arbeiterbewegung selber, nämlich von anarchistischer Seite. So beschimpfte Bakunin 1871 Marx und die Clique jüdischer Literaten, Zeitungskorrespondenten etc., die er um sich geschart habe, als kommende Ausbeuter der Arbeiter:

Die „jüdische Welt steht heute zum großen Teil einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung. Ich bin sicher, daß die Rothschild auf der einen Seite die Verdienste von Marx schätzen und daß Marx auf der anderen Seite instinktive Anziehung und großen Respekt für die Rothschild empfindet. Dies mag sonderbar erscheinen. Was kann es zwischen dem Kommunismus und der Großbank gemeinsames geben? Oh! Der Kommunismus von Marx will die mächtige staatliche Zentralisation, und wo es eine solche gibt, muß heutzutage unvermeidlich eine zentrale Staatsbank bestehen, und wo eine solche Bank besteht, wird die parasitische jüdische Nation, die in der Arbeit des Volkes spekuliert, immer ein Mittel zu bestehen finden… Wie immer das sein mag, Tatsache ist, daß der größte Teil dieser jüdischen Welt, vor allem in Deutschland, Marx zur Verfügung steht.“ (Enzensberger 1981, 364)

„Herr Vogt“

Gegen solche und andere Angriffe setzte sich Marx zur Wehr, z.B. in der Streitschrift „Herr Vogt“ (MEW 14). Es ist schon besonders gehässig von der Biographin Weissweiler, dass sie als zweite zentrale Belegstelle für Marxens Antisemitismus diese Schrift nennt. Mit ihr versuchte Marx seinerzeit, eine Verteidigung seiner persönlichen Ehre gegen eine breite Pressekampagne auf den Weg zu bringen – im Grunde vergeblich. Später wurden die Verleumdungen des Rassisten Carl Vogt vergessen und spielten keine Rolle mehr, es sei denn, man nutzte sie dazu, die Sache umzudrehen und aus Marx den rassistischen Verleumder zu machen [3]. Dass Marx mit der Publikation einem Zerrbild seiner Biographie entgegen treten wollte, dass er also reagierte, wird dabei nicht erwähnt. Weissweiler, die sonst auf persönliche Details scharf ist, unterlässt es, die Behauptung von Marxens „obszönem“ Antisemitismus im Kontext dieser persönlichen Verwicklungen zu explizieren oder zu überprüfen. Mit dem lapidaren Hinweis auf die inkriminierten Stellen, der an der Sache völlig vorbeigeht, ist es für sie getan.

Die Sache besteht übrigens aus Folgendem: In „Herr Vogt“ ereifert sich Marx unter anderem über den jüdischen Unternehmer Levy, Herausgeber des Londoner „Daily Telegraph“. Anlass war, wie gesagt, dass Marx in übler Weise verleumdet worden war und Levys „große papierne Zentralkloake“ (MEW 14, 599) sich an der Verbreitung beteiligt hatte. Das Kolportieren persönlicher Angriffe auf zersetzende oder sonstwie unliebsame (gerade auch jüdische) Intellektuelle scheint dem „Telegraph“-Herausgeber ein Anliegen gewesen zu sein. Marx verteidigte seine angegriffene Ehre mit einem Gegenangriff auf den Zeitungsmacher. Er wehrte sich gegen Schmähungen, die ihn als Halunken und Mitglied einer erfundenen „Schwefelbande“ darstellten, die für allerlei Gaunereien verantwortlich sein sollte. Er zahlte dem Denunzianten Vogt – einem Agenten im Dienste Louis Napoleons, der verschiedene Pressekanäle benutzte – und seinen Spießgesellen mit gleicher Münze heim. Das ist persönliche Polemik und hat mit Judenfeindschaft nichts zu tun. Der „Daily Telegraph“ war, so weit überliefert, ein Boulevardblatt der übelsten Sorte. Marx bezieht sich in seiner Polemik gegen den Herausgeber darauf, dass das Blatt in der damaligen Öffentlichkeit als eklatanter Fall einer Schmutz-und-Schund-Presse verschrien war, die ja seit Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr von sich reden machte.

Marx bringt das Londoner Revolverblatt, das im Schmutz wühlt, in Zusammenhang mit Levys Schnüffelnase, die den Zeitungsmacher stets zum einschlägigen Material führe. Und diese Nase werde vom Londoner Publikum als klassische Judennase bewitzelt, ein Scherz, dem Marx sich anschließt. Obszön sind die Bemerkungen nicht, höchstens in der Anspielung auf Sternes Roman „Tristram Shandy“ und dessen Hauptperson mit der markanten Nase könnte man eine sexuelle Färbung entdecken. Doch die ist literarisch derart subtil, dass sie schon eher in den Bereich des Feinsinns gehört. Die Anspielungen kann man als geschmacklos bezeichnen. Aber sie gehören zum Genre der Streitschrift, die auf derselben Ebene antwortet.

Es handelt sich hier ja nicht um eine theoretische Abhandlung, sondern um Polemik, die explizit ad hominem (ad „Herrn Vogt“) gerichtet ist. Sie ist von derselben Art, wie sie Heine gegen Graf Platen veröffentlichte, nachdem dieser den poetisierenden Judenbengel angegriffen hatte. Heine verstieg sich hier ebenfalls zu einer wütenden Karikatur seines Angreifers, seines Aussehens, seiner pädophilen Neigungen etc. Vielleicht ist das nicht die feine Art der Kontroverse, aber Heines „Bäder von Lucca“ zählen seitdem zur Weltliteratur. Nichts anderes hat Marx mit seiner Streitschrift geliefert. Gestreift wird in ihr das Thema Antisemitismus übrigens nur da, wo Marx den Spott der englischen Presse über den Zeitungsmann Levy wegen dessen Versuchs referiert, mit einem Namenswechsel (von Levi zu Levy) seine jüdische Herkunft zu verschleiern; oder wo Marx Levys Bemühungen aufspießt, sich durch die Diskreditierung anderer Juden (z.B. des Tory-Politikers Disraeli) bei Judenfeinden beliebt zu machen (MEW 14, 601). Das kritisiert aber gerade den opportunistischen Umgang mit Judenfeindschaft.

P.S.

Weitere Stellen bei Weissweiler zur Frauen- und Judenfrage folgen derselben fragwürdigen Logik. Zur Frauenfrage, die in der Biographie nahe liegender Weise im Vordergrund steht, ließe sich daher Ähnliches ausführen. Auch hier sind die Positionen der Arbeiterbewegung – von den frühen Statements bis zur sozialdemokratischen Politik einer Clara Zetkin, die Weissweiler ausführlicher vorstellt – bekannt. Es sei nur daran erinnert, dass schon vor dem Kommunistischen Manifest – „Aufhebung der Familie! Noch die Radikalsten ereifern sich über diese schändliche Absicht der Kommunisten“ – oder den Forderungen von Moses Hess zur Frauenemanzipation im utopischen Sozialismus des frühen 19. Jahrhunderts eindeutige Stellungnahmen erfolgten. Mehring (1980, 11) zitiert z.B. in seiner „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ Charles Fourier. Dieser „sprach das tiefe Wort: Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation.“

Bei Weissweiler ist das aber nur Material für den von ihr konstruierten biographischen Konflikt: Die Frauen der Arbeiterbewegung wie die Marx-Tochter oder Clara Zetkin hätten unter dem offiziellen Bekenntnis zur Frauenemanzipation geradezu gelitten, da sie sie als Verschleierung und Schönfärbung ihrer persönlichen Lebenssituation erfahren hätten – bzw. eigentlich hätten erfahren müssen, wenn man von heute aus einen Blick in ihr Inneres wirft und es sich entsprechend zurecht interpretiert…

Anmerkungen

1 Weissweiler gibt dafür als Quelle den Aufsatz von Edmund Silberner (1977, 270) an. Das Zitat, überliefert vom jiddischen Sozialisten Abraham Cahan, und zwar in dessen Memoiren von 1926 (!), findet sich in der Tat bei Silberner (ebd., 280). Es stimmt aber nicht mit Weissweiler Behauptung überein, diese Worte habe Tussy 1891 zu Cahan auf dem Kongress der Internationale in Brüssel gesprochen. Silberner teilt mit, Tussy habe sie bei einem Treffen jüdischer Sozialisten in London geäußert.

2 Das Konstrukt ist übrigens nicht neu, das Modell dazu stammt von Silberner, und Detlev Claussen hat es im „Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus“ (1994, Sp. 355-364) kritisiert. Silberner beruft sich im Fall der Tochter ebenfalls auf den Journalisten Beer. Dieser habe in „Eleanors ‚Jüdischkeit‘ den tieferen Grund ihrer Lebenstragödie“ gesehen (Silberner 1977, 278). Allerdings fügt Silberner hinzu (ebd., 277f), dass Beer leider – aus Aversion gegen Aveling – den Kontakt zu Tussy abgebrochen habe, so dass von ihm keine wirkliche Aufklärung in dieser Angelegenheit vorläge. Silberner behilft sich, wie Weissweiler, mit Mutmaßungen, ist aber im Unterschied zu der späteren Biographin so ehrlich, dass er dies immer wieder anmerkt und auf die Notwendigkeit weiterer Forschung verweist. Bei Weissweiler werden die Hypothesen als Selbstverständlichkeit präsentiert. Interessant auch, dass Silberner, sozusagen als Hilfskonstruktionen für den behaupteten Vater-Konflikt, zwei zusätzliche Punkte anführt: Erstens das Trauma der Tochter, der die Familie die Wahrheit über den unehelichen Marx-Sohn Freddy verschwiegen habe – als sie sie bei Engels‘ Tod „erfuhr…, erlitt sie ein wahres Trauma“ (ebd. 262f). Weissweiler weiß, dass dies eine (wohl auf Louise Kautsky zurückgehende) Legende ist, dass Tussy viel früher informiert war, und macht deshalb aus diesem Punkt nicht viel. Zweitens die auffällige „Judennase“ von Tussy (ebd., 260ff), die der Marx-Tochter Probleme bereitet haben soll, da jeder sie als Jüdin erkannt habe. Auch das fällt bei Weissweiler weg – vielleicht weil ihr der Hinweis auf Judennasen (siehe die Bemerkungen zum Zeitungsmann Levy) peinlich ist. Silberner kann sonst wie Weissweiler nur den Verdacht vorbringen, dass Tussy „in den Stunden nervöser und psychischer Krisen wahrscheinlich viel über ihre Abstammung nachgedacht und nachgegrübelt“ haben muss (ebd., 289). Diese Wahrscheinlichkeit kommt nur daher, dass der Autor selber die Abstammungsfrage für zentral hält und bei seelischen Konflikten wie selbstverständlich davon ausgeht, dass diese Frage eine Rolle spielt. Von derselben Art ist die Argumentation in Silberners Schrift „Sozialisten zur Judenfrage“. Dass sich der Vater Marx und sein Sohn Karl vom nationalreligiösen Kollektiv der Juden lossagten, kann einfach nicht konfliktfrei abgelaufen sein: „Dem heranwachsenden Knaben müssen sich wohl auch Fragen über die Bekehrung seiner Familie aufgedrängt haben. Was er als Kind darüber dachte, ist unbekannt…“ (Silberner 1962, 113). Es muss bei Marx einen „jüdischen Selbsthaß“ (ebd., 114) gegeben haben. Für einen Autor, dem das Bekenntnis zur hergebrachten Religiosität bzw. Nationalität unausweichlich ist, kann die Ablösung von solchen Einstellungen nur ein problematischer Prozess sein, der eine Art Persönlichkeitsstörung nach sich zieht. Silberner hält die Abwendung des jungen Marx von seiner Herkunft daher auch für das Hauptproblem. Man könne für die späteren Schimpftiraden, die Marx vor allem im Briefwechsel mit Engels von sich gab, keine mildernden Umstände, etwa seine krankheitsbedingte Gereiztheit, gelten lassen. „Er war schon Antisemit, lange bevor seine seit etwa 1849 datierende Leberkrankheit irgendeinen Einfluß auf seine Ausdrucksweise gehabt haben könnte.“ (Ebd., 141) Dass Marx sich seit seiner Knabenzeit nicht zum Judentum bekannte, ist also schon sein ganzer Antisemitismus. So einfach geht das. Alles, was er später geschrieben oder – worauf Silberner besonderen Wert legt – nicht geschrieben hat, sei im Lichte dieser grundsätzlichen Voraussetzung des Judenhasses bzw. „Selbsthasses“ zu lesen.

3 Marx wurde von Vogt „als Haupt einer Erpresserbande geschildert, die davon lebe, ‚Leute im Vaterlande‘ [= in Deutschland] so zu kompromittieren, daß sie das Schweigen der Bande durch Geld erkaufen müßten. Es war die ärgste, aber weitaus nicht die einzige Verleumdung, die Vogt gegen Marx schleuderte. Wie durch und durch verlogen die ganze Darstellung sein mochte, so war sie doch mit allerlei halbwahren Tatsachen aus der Geschichte der Emigration so gemischt, daß sie eine genaue Kenntnis aller Einzelheiten voraussetzte, um nicht auf den ersten Blick zu verblüffen, und diese Kenntnis war am wenigsten bei dem deutschen Philister vorauszusetzen.“ (Mehring 1980, 293) Wenn man die Sache auf den Kopf stellt, kann man natürlich auch heute noch dem streitsüchtigen Menschen Marx einen Strick daraus drehen. Die Zeit (Nr. 13) würdigte 2002 den liberalen 1848er Carl Vogt: „Atheist, Kosmopolit, der witzigste Redner des Parlaments … eben auch ein Vorkämpfer der deutschen Republik, ein engagierter Linksdemokrat“; heute „erinnern sich nur noch die Naturwissenschaftler seiner − als des Geologen und Zoologen … In Genf, vor der Universität, wo er lehrte, steht sein Denkmal; weit über hundert Titel zählt das Verzeichnis seiner wissenschaftlichen Schriften … Die Kommunisten hassten ihn wie die Reaktionäre. Für Karl Marx in London ist Vogt bloß ein Vulgärmaterialist und kleinbürgerlicher Demokrat. Noch 1861 schleudert er ihm, den er jetzt für einen Parteigänger Napoleons III. hält, den Bannfluch hinterher: Herr Vogt betitelt er kurz und knapp seine Polemik. Kampfgenosse Friedrich Engels setzt sie 1871 erbittert fort: Abermals ‚Herr Vogt‘“. Wie bei Weissweiler kein Wort davon, warum Marx dem Mann etwas entgegenschleuderte. Dass es sich umgekehrt verhielt, dass Marx auf die Dreckschleuder einer ätzenden Denunziation reagierte, dass der Demokrat Vogt für die bonapartistische Autokratie eintrat und aus Dank zum Großritter der französischen Ehrenlegion ernannt wurde, muss da nicht weiter interessieren. Auch nicht, worin die wissenschaftlichen Leistungen dieses Naturforschers bestehen. Wikipedia informiert z.B. über „Vogts rassistische und sexistische Auffassungen; Vogt argumentierte dabei ‚wissenschaftlich‘, nämlich anatomisch. Schwarze sah er für minderwertig an, am tiefsten stehend schwarze Frauen; die beiden Endpunkte der Menschheit lagen für den Preußenhasser Vogt in den Negern einerseits und in den Germanen andererseits, eine Summe der Unterschiede, die letztlich größer ist als diejenige der Unterschiede zwischen zwei Affenarten.“ Interessant, dass noch 150 Jahren nach diesen nun wirklich erledigten Kontroversen ein liberales Weltblatt dem liberalen Rassisten gegen den Dogmatiker Marx die Stange hält!

Literatur

  • Ingrid Artus u.a., Marx für SozialwissenschaftlerInnen – Eine Einführung. Wiesbaden 2014.
  • Hans Magnus Enzensberger (Hg.), Gespräche mit Marx und Engels. Frankfurt/M. 1981.
  • Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie [1898], Band 1, Berlin 1980.
  • Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage – Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914. Berlin 1962.
  • Edmund Silberner, Eleanor Marx, ein Beitrag zu ihrer Biographie und zum Problem der jüdischen Identität, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, Band 6, Tel Aviv 1977, S. 259-295.
  • Eva Weissweiler, Tussy Marx – Das Drama der Vatertochter. Eine Biographie. Köln 2002. (2018 hat die Autorin im Zuge des Marx-Jubiläums eine Neuausgabe unter dem Titel „Lady Liberty – Das Leben der jüngsten Marx-Tochter Eleanor“ vorgelegt.)

Goethe – Bettina – Marx

Die Politik-Redaktion von IVA macht zur Zeit Pause. Hier ein Beitrag aus dem Feuilleton der IVA-Redaktion – Fragen des kulturellen Erbes betreffend.

„Das Kind, das, wie ihr wißt, an Göthe schrieb/Und ihm weis machen wollt‘, er hab‘ sie lieb“, hieß bekanntlich Bettina von Arnim, geb. Brentano. Sie war die Autorin des Bestsellers „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ (1835). Der junge Marx machte sich in seinem Gedicht „Neumodische Romantik“ (Marx 2017, 38), aus dem die zitierten Verse stammen, über sie und ihr Bedürfnis lustig, sich mit ihrem Lockenhaupt (auf dem es „keine Läuschen“ gibt) an stramme Männer anzulehnen. Dabei gehörte Karl Marx in der Vormärzzeit selber zu ihren Verehrern, wusste wohl auch nicht nur über ihre Kopfhaut genauer Bescheid.

Von der Klassik über die Romantik zum Vormärz

Zwar ist die Mitteilung Raoul Pecks zu seinem Film „Der junge Marx“ (siehe: „Marx is back, Vol. 1“ bei IVA), Marx und Engels wären sich im Berliner Salon Bettinas als Rivalen um deren Gunst begegnet und hätten erst später in Paris Freundschaft geschlossen, nicht haltbar; die erste Begegnung der beiden Revolutionäre fand wohl in Köln, in der Redaktion der Rheinischen Zeitung, statt. Aber dass Marx von der Frau, die bereits allen möglichen Klassikern und Romantikern den Kopf verdreht hatte, schwer beeindruckt war, ist nicht zu leugnen. Um die Klärung der Sachlage haben sich im Jahr 2018, als der 200. Geburtstag des berühmten Rheinländers abgefeiert wurde, die Bad Kreuznacher Heimatblätter große Verdienste erworben. Laut Heimatforscher Michael Vesper hielt sich Bettina 1842 zur Eröffnung des neuen Kurhauses in Kreuznach auf (wo Marx später seine Jenny heiratete). Sie logierte im Hotel Rheinstein und traf in dieser Zeit auch mit Marx zusammen:

Der Heimatforscher schreibt (in der Nr. 6, 2018): „Betty Lucas, eine Freundin Jennys, wird sich 20 Jahre später erinnern: ‚Bettina von Arnim raubt ihr zum großen Theil ihren Bräutigam, der morgens in aller Frühe und Abend bis spät in die Nacht mit ihr die Umgegend durchschweifen müsse und doch nur kurze acht Tage zum Besuch gekommen sei.‘ Marx muss Bettina von Arnim noch um 21.00 Uhr zum Spaziergang auf den Rheingrafenstein begleiten. Die andere Auslegung, er sei Bettine in das Hotel Rheinstein gefolgt, ist mit der Stelle nicht vereinbar.“ Aha, zu einem einsam gelegenen, hochromantischen Felsen ging es also, nicht ins Hotel, wo man beim kleinstädtischen Publikum sicher aufgefallen wäre!

Besagte Betty erinnert sich daran, dass sie abends in das Zimmer Jennys getreten sei „und im Halbdunkel eine kleine Gestalt auf dem Sofa kauern sah, die Füße heraufgezogen, die Knie von den Händen umschlossen, eher einem Bündel als einer menschlichen Gestalt ähnlich, und ich begreife heute noch nach mehr als zehn Jahren meine Enttäuschung, als dieses Wesen vom Sofa glitt, um mir als Bettina von Arnim vorgestellt zu werden.“ (Böttger 1987, 311) Das negative Bild ist sicher durch die Umstände und den Blickwinkel der jungen Frauen geprägt; für Betty und Jenny, Mitte bis Ende Zwanzig, muss Bettina, Mitte Fünfzig, eine alte Frau gewesen sein. Bei der Zeitangabe scheint auch eine Erinnerungstäuschung vorzuliegen, während eine Sache wohl stimmt: Dass Bettina nicht ruhig auf einem Stuhl sitzen konnte, ihrem verehrten Goethe z.B. auf den Schoß sprang, ist auch von andern Zeitgenossen überliefert…

Aber entscheidend ist, dass sie auf junge Männer zu dieser Zeit ganz anders gewirkt haben muss, als die Erinnerung von Jennys Jugendfreundin nahelegt. Dies zeigt auch der erst kürzlich edierte Briefwechsel Bettinas mit dem Jurastudenten Julius Döring. Die Herausgeber haben ihm den Titel „Letzte Liebe“ gegeben, obwohl die Affäre, die 1839 begann und einige Jahre lief, gar nicht die letzte war. 1841 beschwerte sich Döring z.B. bei Bettina, dass sie, wie man höre, auch noch mit einem jüdischen Jüngling, einem „gewissen Oppenheim“, näheren Umgang pflege, und auf die Frage, „was er treibe? sagte sie: er macht Revolutionen“ (v. Arnim 2019, 271). Kein Wunder also, dass die – dank der Heirat mit ihrem Achim geadelte und zur preußischen Prominenz zählende – Berliner Salonlöwin auch mit dem jungen Marx in Kontakt kam.

Der DDR-Autor Fritz Böttger sah natürlich bei der Begegnung in Kreuznach die politischen Fragen im Vordergrund: „Worüber sich die beiden auf ihren Wanderungen unterhielten, darüber wissen wir nichts. Wir dürfen nur vermuten, daß ihre politischen Ansichten in vielem übereinstimmten… Es ist nicht ausgeschlossen, dass Bettina damals auch Anregungen zu ihren künftigen Armenberichten empfing.“ Bettina begründete ja in Deutschland die kritische Armutsforschung, die später von Christoph Butterwegge fortgeführt wurde. Sicher ist sich Böttger bei Bettina aber in folgendem Punkt: „Es war der Augenblick ihrer engsten ideologischen Annäherung an Karl Marx“ (Böttger 1987, 312).

Marx und seine Frau Jenny haben ihre persönlichen Briefe später vernichtet. Aus erster Hand ist nichts Weiteres zu der Episode bekannt. Die Mitteilung der alten Freundin, die in die Zeit des Londoner Exils fällt, ist wohl das einzige Dokument zu Jennys Beschwerden über ihre lange Verlobungszeit, die sie im äußersten Winkel der Rheinlande, der damaligen preußischen Rheinprovinz, und ihr Bräutigam in den Metropolen Bonn und Berlin verbrachte. Was genau auf dem Rheingrafenstein passierte – nur ideologische oder auch sonstige Annäherung? Anlehnen des Lockenhaupts oder mehr? –, ist bis heute ungeklärt. Michael Heinrich ist in seiner minutiös die Jugendzeit beschreibenden Marx-Biographie, die die (spät-)romantische Phase des jungen Karl, seinen Kontakt mit der Poesie, als intellektuelle Etappe ernst nimmt, nicht darauf eingegangen.

Bettina schließt die deutsche „Kunstperiode“ ab

In der Germanistik weitgehend geklärt ist dagegen, dass Bettina, dieses enfant terrible des deutschen Literaturbetriebs, Sex mit Goethe und auch sonst massenhaft Liebschaften laufen hatte; ob es mit Beethoven mehr als einen Flirt gab, ist dagegen noch nicht entschieden, immerhin identifizieren einige Experten dessen „unsterbliche Geliebte“ mit Bettina. Die belesenen Zeitgenossen ahnten damals natürlich – wie der leise Spott im Gedicht von Marx belegt –, dass Bettina in ihrem „Briefwechsel Goethes mit einem Kinde“ ihre Liebschaft mit dem Weimarer Klassiker etwas übertrieben dargestellt haben könnte.

Aber dass Bettinas Besuch in Weimar eine wichtige Begegnung war, die dann auch von Goethe im Kontakt mit Bettinas Bruder Clemens und dem späteren Ehemann Achim von Arnim fortgeführt wurde – die beiden romantischen Jünglinge hatten ihm ihre Volkslieder-Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1806) gewidmet und ihn mit diesem Volkskunst-Fake begeistert –, ist ja gesichert. Ebenso wie die etwas abrupte Trennung, nachdem Bettina Goethes Ehefrau Christiane als „wahnsinnige Blutwurst“ abgekanzelt hatte, womit das Bündnis zwischen dem gereiften Klassiker und seinen romantischen Verehrern endgültig zu Bruch ging.

Die seltsamen Verquickungen aus der Zeit, die Heinrich Heine die deutsche „Kunstperiode“ nannte und als deren Erbin sich Bettina verstand, geben also immer noch Rätsel auf. Michael Heinrich, der den ersten Band seiner Biographie einer Phase widmete, in der Marx kein einziges theoretisches Werk von Belang verfasste, erwähnt nur ganz am Rande die Beziehung zu Bettina (vielleicht folgt etwas zu der Kreuznacher Episode und deren Kontext im zweiten Band, der für 2025 angekündigt ist). Dabei hält Heinrich, wie gesagt, die poetische Jugendphase für besonders wichtig, hier finde man „sehr wahrscheinlich den Schlüssel zur Lösung eines weiteren Problems der intellektuellen Entwicklung des jungen Marx – nämlich seines Übergangs zur Hegelschen Philosophie“ (Heinrich 2018, 201).

Heinrich misst der Beziehung zu Bettina keine Bedeutung zu. Gegen Pecks Anekdote von der Begegnung mit Engels im Berliner Salon Bettinas bringt er einleuchtende Gründe vor, schließt dies aber mit der kategorischen Feststellung ab: „Auch gehörte Karl nicht gerade zu den Bewunderern Bettinas“ (ebd., 253). Ob das so stimmt? Ein Literatur-beflissener junger Mann trifft eine erfolgreiche Schriftstellerin, die Goethe auf dem Schoß saß und zur Ikone des Jungen Deutschland aufgestiegen ist, die den Revoluzzern auf die Sprünge hilft und sich von ihnen hofieren lässt – und da soll er nicht zu ihr aufblicken? Wo er ihr seine knappe Zeit opfert – da soll er kein Bewunderer sein? Sein Spottgedicht, das Heinrich als Beleg anführt, ist ja auch kein bösartiger Angriff, sondern amüsiert sich eher über eine gewisse Anhänglichkeit Bettinas.

Also, wenn schon Marx-Biographik, wie sie Heinrich für nötig hält, dann bitte volles Rohr! Und bis Heinrichs zweiter Band erschienen ist, muss man darauf setzen, dass der Kreuznacher Heimatverein am Ball bleibt. Vielleicht wird dann der Rheingrafenstein endlich seine verdiente Würdigung erfahren und dort eine entsprechende Plakette angebracht. Und dann haben auch die chinesischen Touristen neben dem Karl-Marx-Haus in Trier eine weitere Stätte, die sie bei ihrem Deutschlandtrip besuchen können.

Literatur

Bettina von Arnim, Letzte Liebe – Das unbekannte Briefbuch. Hg. von Wolfgang Bunzel und Christian Döring. Berlin 2019.

Fritz Böttger, Bettina von Arnim – Ein Leben zwischen Tag und Traum. Berlin, 2. Auflage 1987.

Michael Heinrich, Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft. Bd. 1, Biographie und Werkentwicklung: 1818-1841. 1. Auflage, Stuttgart 2018. (2. Auflage 2024, der zweite Band soll 2025 erscheinen.)

Karl Marx, Weltgericht – Dichtungen aus dem Jahr 1837. Mit einem Nachwort von Michael Quante. Bonn 2017.


August

Geistige Aufrüstung auf allen Kanälen

Dass die deutsche Nation „kriegstüchtig“ werden muss, wird von den politisch Verantwortlichen auch als geistig-moralische Herausforderung begriffen und entschieden vorangetrieben. Dazu eine Übersicht von Johannes Schillo.

Im Overton-Magazin ist kürzlich ein Beitrag über die „Geistige Aufrüstung in Deutschland“ erschienen. Er weist eingangs auf den neuen Podcast von Freerk Huisken hin, der bei 99zu1 gesendet wurde. Huisken hatte dort thematisiert, dass und wie derzeit die geistige Aufrüstung im Klassenzimmer stattfindet.

Aber nicht nur im staatlichen Erziehungswesen steht die Ertüchtigungsaufgabe an. In allen Abteilungen des Geisteslebens laufen, wie in dem Beitrag bei Overton exemplarisch vorgestellt, entsprechende Bemühungen – seien es nun Presse und Medien, der akademische Betrieb von Forschung und Lehre, politische und berufliche Bildung, Kunst & Kultur, Museen, Verlage und Kongresse oder der Sportbetrieb. Und last but not least stellt sich die Militärseelsorge auf den Bedarf nach kriegstüchtigen Geistlichen ein.

Hier noch einige Nachträge zu dem Rundblick übers betroffene Gelände sowie über kritische Stimmen, die sich – noch – zu Wort melden dürfen.

Nachrüstung bei der Nationalerziehung

Huiskens Fazit zur Neuorientierung des Schulwesens lautet: Die bisher gültigen politikdidaktischen Prinzipien des Überwältigungsverbots und des Kontroversitätsgebots erfahren eine bemerkenswerte Verschiebung. Als erstes Prinzip gilt jetzt die Vereinnahmung der Schüler für den neuen Kurs der Kriegsertüchtigung und der Parteinahme für die richtige, nämlich „unsere“ Seite in den laufenden Konflikten. Mit den Worten „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“ (siehe Wohlfahrt/Schillo 2023, 9f) hatte ja die deutsche Außenministerin Baerbock bei einer Rede vor dem Europarat Anfang 2023 klargestellt, dass Deutschland – zumindest im moralischen Sinne – Kriegspartei ist, dass das nationale Wir also auf einen eindeutigen Standpunkt verpflichtet ist.

Wer sich angesichts dieser Positionierung die Freiheit herausnimmt, durch Putins Angriff auf die Ukraine oder durch den Überfall der Hamas auf Israel nicht so erschüttert und gefühlsmäßig überwältigt zu sein, dass er alle „Verteidigungsmaßnahmen“ der Gegenseite gutheißt, wird rasch zum bedenklichen Fall. Hier muss das Lehrpersonal also im Sinne eines Überwältigungsgebots nachhelfen. Kontroversität ist an dieser Stelle verboten. Sie spielt erst da wieder eine Rolle, wo die Politik sich nicht festgelegt, sondern einen Raum für Kontroversen eröffnet oder zugelassen hat (z.B. schwere Waffen in die Ukraine – ja oder nein?). Damit werden auch didaktische Debatten konstruktiv fortgeführt, die schon immer um die korrekte Auslegung dieses Prinzips geführt wurden.

Huisken erläutert in seinem neuen Videobeitrag detailliert die aktuellen Maßnahmen der Aufrüstung im Klassenzimmer. In dieser Hinsicht könnte man übrigens einmal mit vollem Recht den ideologisch schwer belasteten Terminus der „Nachrüstung“ bemühen. Was mit den Schülern und Schülerinnen angestellt wird, wenn sie mental und emotional an die Kriegsträchtigkeit des Schutzes „unserer“ Sicherheit herangeführt werden, fußt gerade auf dem sicheren Fundament einer vorausgegangenen Nationalerziehung. So gesehen findet hier kein Bruch statt, kein fundamentaler Kulturwandel, den andere Kritiker der geistig-moralischen Aufrüstung am Werk sehen, sondern eine konsequente Fortsetzung dessen, was die Schule an erster Stelle leistet, noch bevor sie ans Selektieren, Ideologisieren und Qualifizieren geht: die Bildung eines Volkskörpers mit dazugehörigem Geist und Gemüt. Da muss bei Gelegenheit dann eben moralisch nachgerüstet werden.

Die geballte Medienmacht

„Die Presse kann mehr als lügen“ – so lautete das Motto einer Videoreihe von Renate Dillmann, die ebenfalls bei 99zu1 gesendet wurde. Die acht Episoden zum „real existierenden Wahnsinn“ der deutschen Öffentlichkeit – ergänzt um einen Beitrag über den Krieg in Nahost – liefen 2023 und sind weiterhin bei 99zu1 abrufbar. Dillmann wird die Reihe jetzt in einer medienkritischen Veröffentlichung zusammenfassen, die zum Oktober 2024 erscheinen soll: „Medien. Macht. Meinung – Auf dem Weg in die Kriegstüchtigkeit“ (verlegt bei PapyRossa, Köln, siehe hier). Die Buchveröffentlichung erweitert diesen „Crashkurs Medienkompetenz“ um einen theoretischen Teil, der sich der immer wieder als zentrale Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft herausgestellten Pressefreiheit widmet. Im dritten Teil des Buchs wird diese Analyse dann nochmals an drei Fallbeispielen einer Kriegs- bzw. Vorkriegslage – Ukraine- und Gazakrieg sowie die Einstimmung der Bevölkerung auf das Feindbild China – verdeutlicht und auf die aktuellen Frontbildungen der US-dominierten „regelbasierten“ Weltordnung bezogen.

Dillman beginnt ihre Analyse mit dem fundamentalen Problem der Informationsbeschaffung bzw. -auswahl und thematisiert dann die verschiedenen Verfahrensweisen, die in der heutigen Mediengesellschaft vorherrschen und die sich gerade nicht im Unterdrücken unbequemer Informationen und in der Verbreitung von Lügen erschöpfen. Wobei diese unschöne Praxis natürlich Bestandteil der geistigen Aufrüstung ist, die derzeit in den Leitmedien öffentlich-rechtlicher und privatwirtschaftlicher Bauart stattfindet. Diese Tatsache hat ja für einen erstaunlich großen Teil des lesenden Publikums als notwendiges Korrektiv eine „Gegenöffentlichkeit“ auf den Plan gerufen, deren Status mittlerweile als wichtige Innovation oder als ernstes Problem anerkannt ist. Von staatlicher Seite wird das im Prinzip als ein Fall von „Desinformation“ bewertet und entsprechend bekämpft. Von den „traditionellen“ Medien wird es als unliebsame Konkurrenz wahrgenommen.

Von sozial- bzw. kommunikationswissenschaftlicher Seite findet das jetzt auch größere Berücksichtigung. So konstatiert z.B. ein neuer Sammelband, dass hierzulande „Mediensystem und öffentliche Sphäre in der Krise“ sind – so der Titel einer Veröffentlichung, die im August im Westend-Verlag erschienen ist. Der von Hannah Broecker und Dennis Kaltwasser herausgegebene Band will den „Zustand des öffentlichen Debattenraumes“ untersuchen, wobei natürlich auch die neuen Online-Foren als Modelle einer „selbstorganisierten Öffentlichkeit“ eine Rolle spielen. Die beiden Hochschullehrer sehen (unter Anknüpfung an Habermas’ berühmte Studie) einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit am Werk und dadurch eine Krise der bundesdeutschen Demokratie auf dem Weg. Sie vergleichen das mit den letzten Monaten der DDR, als Ende 1989 der Gründungsaufruf des Neuen Forums mit dem Satz begann: „In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört“.

Diese Diagnose wird in dem Sammelband, an dem ein Dutzend Autoren aus dem Wissenschafts- und Medienbetrieb mitgewirkt hat, auf die heutige BRD übertragen. So konstatiert die Einleitung ein „Propaganda- und Zensurregime, das den Journalismus der Leitmedien seit den späten Nullerjahren wie in einem Sandwich zerquetscht“ (Broecker/Kaltwasser 2024, 11). Seltsam allerdings, dass sich das angeblich für die Demokratie so konstitutive Prinzip der Öffentlichkeit – es soll einen Ort garantieren, wo „alle mitreden können oder wenigstens gehört werden“, wenn es um die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse geht (ebd., 10) – auf die Ansage der politischen Führung hin quasi in Luft auflöst und sich ein ganzer Berufsstand in dieser Weise in die Zange nehmen lässt.

Hier ist leicht erkennbar, dass die Autoren ein Prinzip und einen dazugehörigen Betrieb idealisieren, um dann der bundesdeutschen Realität lauter Vermisstenanzeigen auszustellen. Sie sehen darin ja auch einen überzeitlichen Konflikt zwischen „Vernunft und Hybris“, der „seit der Antike“ tobt, nämlich den „Kampf zwischen der Freiheit des Individuums und dem Streben nach Allmacht im Namen einer überlegenen Rationalität oder unabdingbarer Notwendigkeiten“ (ebd., 15). Etwas seltsam auch, individuelle Freiheit mit Vernunft und den Anspruch rationaler Klärung mit Hybris gleichzusetzen! Hat nicht gerade die Antike die Hybris im Freiheitsdrang des Einzelnen ausgemacht, der sich gegenüber höheren Notwendigkeiten vergeht? Und ist denn erst seit den Nuller-Jahren – als Folge eines überzeitlichen Menschheitskonflikts – der Niedergang des Qualitätsjournalismus von FAZ und Co. zu verzeichnen? Aber egal! Öffentlichkeit soll hier eben als ideale Sphäre gerettet werden. Ihre weit banaleren Leistung im Rahmen von Herrschaftsausübung und -legitimierung werden übrigens im theoretischen Teil von Dillmanns Buch abgehandelt.

Neues von der „Universitätshure“

Immerhin zeigen die Wortmeldungen von Broecker und Kollegen, dass man sich noch kritisch äußern kann – dabei allerdings, wie etwa Patrick Baab in dem Sammelband berichtet, öffentliche Anfeindungen und faktische Berufsverbote in Kauf nehmen muss. Dass auch der Wissenschaftsbetrieb im Großen und Ganzen dienstbereit zu dem aktuellen politischen Auftrag steht, verdeutlicht exemplarisch der „Fall Guérot“, der bei IVA in 2023 und 2024 bereits Thema war. Im Overton-Magazin hieß es dazu 2022, als die Politikwissenschaftlerin sich nicht einfach in die neue antirussische Front einreihen wollte: „Die Zeitenwende bringt eine Gesinnungswende mit sich, die den Raum des Sagbaren weiter einschränkt“. Dass Kriegsbegeisterung gerade bei Intellektuellen Platz greift, hatte übrigens schon der Beginn des Ersten Weltkriegs gezeigt. Nicht nur in der internationalistisch ausgerichteten Arbeiterbewegung, sondern auch unter Bildungsbürgern und Akademikern wurde der Anschluss ans nationale Kollektiv und dessen Tatendrang gefeiert.

Ähnlich war es bei der Zeitenwende des Jahres 1933. Universitätsrektor Professor Heidegger begrüßte in seiner berühmten Freiburger Antrittsrede die Etablierung der Naziherrschaft als Einlösung seiner philosophischen Blütenträume und als Aufbruch in der deutschen Universitätslandschaft. Seinerzeit kommentierte der emigrierte Philosoph Ernst Bloch (in „Erbschaft dieser Zeit“) die nationalsozialistischen Bemühungen um einen Wiederaufstieg Deutschlands als Führungsmacht: Natürlich habe Hitler wie Wilhelm II. zum Kriegsbeginn 1914 sofort „die Universitätshure“ gefunden, „die den Kitsch latinisiert und den Betrug mit Finessen à la Schmitt oder Freyer oder Heidegger verbessert“. Das ist sich eine Universität natürlich schuldig: dass sie beim Mitmachen und Ausgrenzen akademisches Niveau bewahrt. Anno Domini 2023 wird deshalb eine Professorin Guérot wegen lachhafter Vorwürfe in Sachen Nachlässigkeit (es geht um einige Lappalien bei Zitatnachweisen) von der Uni entfernt, da sie angeblich „wissenschaftliche Standards“ verletzt hat.

An diesem Fall zeigt sich, wie das Zusammenspiel von Medienmacht (an der an vorderster Front die FAZ beteiligt war) und Wissenschaftsbetrieb unter der gegebenen nationalen Leitlinie abweichende Meinungen aussortiert. Und das führt dann dazu, dass am Schluss doch noch im klassischen Sinne von den Behörden maßregelnd eingegriffen wird. Im April 2024 gab es, wie Overton etwas abschätzig über die ehemalige Bundeshauptstadt schrieb, „ein Urteil aus der Provinz“: Die Universität Bonn, der Arbeitgeber Guérots, bekam vor dem Arbeitsgericht Recht; die Kündigung der Professorin ging ohne vorherige Abmahnung ruckzuck durch. Alles in allem ein Urteil, das ganz dem neuen nationalen Niveau entspricht und keinen provinziellen Geist atmet!

So bekommen „Professoren, die als Anhänger des ‚freien Meinens‘ im Wissenschaftsbetrieb den einen oder anderen kritischen Traktat veröffentlicht haben, zu spüren, dass sich ihre Wissenschaft ebenfalls unter den herrschenden politischen Konsens zu beugen hat“, schreibt Freerk Huisken dazu in seiner Flugschrift „Frieden“ (Huisken 2023, 84). Er zitiert den vorausgegangenen Kündigungsbeschluss des Bonner Unirektorats. Dort hieß es, die Freiheit von Forschung und Lehre sei „ein Privileg, das jedoch auch mit großer Verantwortung einhergeht“. Huisken kommentiert: „Und ‚große Verantwortung‘ besteht darin, ohne Maßregelung und Zensur von oben der richtigen Parteilichkeit das wissenschaftliche Gewand zu verpassen.“

Die Bonner Lokalpresse hatte hier übrigens gewisse Bauchschmerzen, weil der Akt der politischen Zensur sich hinter einem – leicht durchschaubaren – Vorwand versteckte: Plagiat, da an ein paar Stellen die Zitatnachweise fehlten. An den früheren Veröffentlichungen der geschätzten Professorin hatte sich aber nie jemand gestoßen. „Alles schien und war in Ordnung – bis Guérot politisch verhaltensauffällig wurde“, schreibt abschließend der örtliche General-Anzeiger (12.8.2024). Die schriftliche Begründung des Gerichtsurteils liegt nun seit Anfang August vor und kann hier nachgelesen werden.

„Ressource Religion“

So weit sind in der Welt des Wahren, Schönen und Guten also schon einmal die Weichen gestellt. Was das Letzte, die Religion, betrifft, lassen die zuständigen Stellen natürlich auch nichts anbrennen und kommen nicht mit unnötigen Friedensschalmeien, die die Kriegsertüchtigung stören. „Immer mehr Gefechtsübungen und nun auch dauerhafte Auslandseinsätze wie in Litauen erforderten neue Ansätze für die seelsorgerische Arbeit in der Truppe. Viele Soldatinnen und Soldaten wachsen laut Felmberg [evangelischer Militärbischof] ohne jede religiöse Sozialisation auf, ohne jeden Glauben. Militärseelsorge müsse auch für Ungetaufte und nicht Gläubige da sein, ohne billige Mitgliederwerbung zu machen. Wichtig sei die Begleitung der Truppe.“ (Zitiert nach EKD, Portal Militärseelsorge)

Auf katholischer Seite wird das genau so gesehen: „Der Militärseelsorge kommt in Zeiten des Krieges eine herausgehobene Bedeutung zu“, verlautbarte Bischof Meier nach einer Reise in die Ukraine im April 2024. Dabei stellte er auch gleich fest, dass ein „radikaler Pazifismus“ natürlich keine „Antwort auf die militärischen Angriffe Russlands sein könne“. Gemäßigter Pazifismus, vulgo: Friedensgesäusel, ist demnach kirchlicherseits noch erlaubt. Und so viel ist damit klar, was Overton ebenfalls im April über die katholische Kriegstheologie im Dienst an Nato und Nation vermeldete: „Wenn sich Menschen auf dem Feld der Ehre gegenseitig abschlachten, darf einer nicht fehlen – der liebe Gott“.

Wenn man der arschnackten Todesgefahr ins Gesicht blickt, wenn Witwen und Waisen über den Verlust ihrer Angehörigen zu benachrichtigen sind – dann ist der göttliche Beistand beim Aus- und Durchhalten immer noch eine sichere Bank. Das sah auch Hitler so, der bis zu seinem Lebensende Mitglied der katholischen Kirche blieb. Er schloss als seine erste außenpolitische Großtat – vorausschauend auf den kommenden Krieg – ein Konkordat (inklusive Militärseelsorge-Vertrag) mit dem Vatikan ab. Der hatte halt die bewährten Kräfte und schon im ersten großen Völkermorden von 1914 bis 1918 bewiesen, dass sich der ultramontane Standpunkt Roms bestens mit der nationalen Sorge um den eigenen Kriegserfolg verbinden lässt.

Und die Evangelen, die sowieso nationalkirchlich verfasst sind, können hier gleich vorneweg marschieren. So erklärte der besagte Militärbischof Bernhard Felmberg bei der Gesamtkonferenz der evangelischen Militärgeistlichen, „es sei wichtig, dass Soldatinnen und Soldaten einen inneren Zugang zu der Ressource entwickelten, die Hilfe gebe und verheiße“. Nämlich zur Ressource Religion! Das ist kein Jargon von Religionskritikern, so reden heute leibhaftige Gottesmänner (und -frauen nicht zu vergessen)! Und so frischen sie die alte Weisheit auf: Not lehrt beten.

„Kunst im Krieg“

Aber wie steht es mit der Kunst – der Welt des schönen Scheins, die sich in aller künstlerischen Freiheit übers Elend staatlich organisierten Totschlagens und Kaputtmachens erheben kann? Eine eigene Welt, die – seit Adornos Ästhetischer Theorie hat man es schriftlich – in ihrer gehobenen Form als das letzte Refugium kritischen, widerständigen Denkens gilt? Um es kurz zu sagen, es sieht düster aus. So jedenfalls die Bilanz von Stefan Ripplinger, der im August den Essay „Kunst im Krieg – Kulturpolitik als Militarisierung“ vorlegte (2024). Der Autor bietet eine erschreckende Bilanz dessen, was momentan an öffentlicher Formierung in Sachen Kriegstüchtigkeit stattfindet. Er bringt z.B. eine lange Liste einschlägiger Auftrittsverbote für russische Künstler und Kunst. Analog geht es seit Ende des letzten Jahren mit der Einschränkungen beim Kulturaustausch im Fall Palästina zu.

Ripplinger erweitert auch den Blick von der Kunst- zur Pressefreiheit, spricht von der „freiwilligen Selbstgleichschaltung“ der Medien (Ripplinger 2024, 98), präsentiert eine lange Liste von Eingriffen – sei es durch Behörden, sei es durch Kulturfunktionäre oder wachsame Zeitgenossen aus der Zivilgesellschaft – und wirft zudem einen Blick auf ähnliche Tendenzen bei der Freiheit der Wissenschaft. Ein Exkurs (9. Kapitel) bebildert dies nochmals an der öffentlichen Kampagne, die speziell die FAZ als Medium des Bildungsbürgertums gegen die Philosophin Judith Butler führte. Deren Einspruch gegen die unbedingt eingeforderte Parteinahme für den israelischen Vernichtungskrieg im Gazastreifen sei von einer staatstreuen Presse als antisemitisch ausgegrenzt worden und habe somit einen Markstein in der neuen Hetze gegen abweichende Meinungen gesetzt. Das Ganze ist auch ein Gegenstück zum „Fall Guérot“, wo die FAZ ebenfalls eine wichtige Rolle spielte – wie der Bonner General-Anzeiger übrigens in seiner letzten Meldung ganz stolz ausplauderte und dabei gleich einen neuen Beobachtungstatbestand für den Staatsschutz formulierte: „politische Verhaltensauffälligkeit“!

Das kann man also abschließend festhalten: Die „Ressource Geist“ steht in Deutschland Gewehr bei Fuß.

Nachweise

Hannah Broecker/Dennis Kaltwasser (Hg.), Mediensystem und öffentliche Sphäre in der Krise. Frankfurt/M. (Westend) 2024.

Renate Dillmann, Medien. Macht. Meinung – Auf dem Weg in die Kriegstüchtigkeit. Köln (PapyRossa) 2024 (erscheint voraussichtlich zum Oktober).

Freerk Huisken, FRIEDEN – Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass. Flugschrift. Hamburg (VSA) 2023.

Freerk Huisken, Geistige Aufrüstung im Klassenzimmer, 99zu1, 8. August 2024 https://www.youtube.com/watch?v=bs3gohfg--0

Stefan Ripplinger, Kunst im Krieg – Kulturpolitik als Militarisierung. Köln (PapyRossa) 2024. Siehe dazu auch die Rezension bei socialnet: https://www.socialnet.de/rezensionen/32444.php

Johannes Schillo, Der Fall Guérot III. IVA, Februar 2024 https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts24#der_fall_guerot_iii

Johannes Schillo, Katholische Kriegstheologie im Dienst an Nato und Nation. Overton, 7. April 2024 https://overton-magazin.de/top-story/katholische-kriegstheologie-im-dienst-an-nato-und-nation/

Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo, Die deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch – Lektionen in patriotischem Denken über „westliche Werte“. Eine Flugschrift. Hamburg (VSA) 2023.


Klimaprotest = Klassenkampf?

„Die globale Umweltkatastrophe hat begonnen!“ So heißt eine Veröffentlichung der MLPD. Dazu eine Stellungnahme von Rudolf Netzsch.

„Die globale Umweltkatastrophe hat begonnen – Was tun gegen die mutwillige Zerstörung der Einheit von Mensch und Natur?“ Unter diesem Titel veröffentlichte die MLPD, die „Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands“, vor zehn Jahren eine Kampfschrift zur kapitalistischen Umweltkatastrophe. Sie legte das Buch Anfang des Jahres in erweiterter Fassung vor (Engel u.a. 2024), versuchte auch, es in einem Werbevideo zur Europawahl bekannt zu machen. Doch da schritt der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein und zensierte das Video (nachzulesen auf der Website der MLPD: https://www.mlpd.de/): So viel Sachinformation ist aus formalen Gründen in der Wahlreklame des deutschen Staatsfernsehens verboten!

Überhaupt sind die Thesen des Buchs im „öffentlichen Diskurs“ der BRD nicht besonders erwünscht. Und beim hiesigen Klimaprotest findet man diese Art kämpferischer Haltung eher am Rande. Die Fridays for Future z.B. grenzen solche antikapitalistischen Positionen sogar schon mal auf ihren Demos aus. Womit hat man es hier also zu tun?

Das kämpferische Proletariat

„‚Proletariat‘ – war da nicht mal was? Irgendwas mit einer ‚revolutionären Klasse‘ von ‚Brüdern‘, die ‚zur Sonne, zur Freiheit‘ unterwegs sind, ‚des Menschen Recht‘ erkämpfen und dergleichen mehr?“ (Decker/Hecker 2002, S. 1)

Doch, da war mal was, aber es gehört der Vergangenheit an. Nicht der Vergangenheit gehören freilich die Gründe für die Kämpfe an, durch welche die Lohnabhängigen damals ihre materielle Lage verbessern wollten. Die bestehen auch heute noch. Prekäre Lebensverhältnisse, also Armutslöhne, gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen und Existenzunsicherheit, gibt es nach wie vor, und zwar nicht zu knapp. Allerdings wurden seit der damaligen Zeit die Verlaufsformen des Klassengegensatzes durch rechtliche Regelungen, insbesondere der Tarifautonomie, in systemkonforme Bahnen verwiesen, und die Arbeiterbewegung hat sich, wenn auch nicht ohne innere und äußere Auseinandersetzungen, inzwischen diesen neuen Bedingungen so sehr angepasst, dass es ihrer Selbstauflösung als systemkritische Bewegung gleichkommt.

Eine revolutionäre Arbeiterbewegung, und damit so etwas wie „Klassenbewusstsein“, gibt es nicht mehr. Verschiedene Versuche der Wiederbelebung gab es vor allem im Anschluss an die Studentenbewegung der „68er“; doch scheiterten sie, als Resultat entstanden lediglich diverse Grüppchen, denen sich, wenn überhaupt, nur wenige Arbeiter anschlossen. Eine spezielle Variante davon waren die „K-Gruppen“, die sich auf theoretischem Gebiet meist darauf beschränkten, eine mehr oder minder wörtliche Übernahme der mittlerweile mehr als hundert Jahre alten Positionen zu praktizieren. So entstand der Eindruck, als gäbe es die revolutionäre Arbeiterbewegung noch und könnte durch das Ausrufen ihrer Parolen wieder zur kämpferischen Aktion erweckt werden.

Was die Einstellung zu Umweltfragen angeht, traf oder trifft auf diese Szene oft zu, was der Marxist Kohei Saito so beschreibt: „Der Ausdruck ‚Marx’ Ökologie‘ klang jahrzehntelang wie ein Oxymoron [=eine paradoxe Wortbildung]. Sowohl Marx’ Annahme des unbegrenzten wirtschaftlichen und technologischen Wachstums als auch sein Propagieren der absoluten Naturbeherrschung schienen in striktem Gegensatz zu jeglicher ernsthaften Diskussion über die Naturressourcenknappheit und die Überbelastung der Ökosphäre zu stehen.“ (Saito 2018, S. 9) Zu Saitos Statement sei nur angemerkt, dass es statt der Rede von der Marx’schen „Annahme“ eigentlich „die Marx zugeschriebene Annahme“ heißen müsste. Immerhin zeigt Saito ja selbst auf, welche (späteren) Erkenntnisse von Marx über die besagten Annahmen hinausgehen und sie zumindest relativieren. Ähnliches ist zu seinem „Propagieren der absoluten Naturbeherrschung“ zu sagen.

Hierzu noch eine Anmerkung: Die Auffassung, wonach ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen Marx und ökologischen Anliegen bestünde, fand (und findet) sich allerdings nicht nur bei manchen marxistischen Gruppierungen, sondern – in noch vehementerem Maß! – bei Gegnern des Sozialismus. Da bekommt, wer auf den Kapitalismus als Grund für Klima- und Umweltzerstörungen verweist, sofort den Hinweis zu hören, der ehemalige Ostblock habe doch mindestens ebenso gravierende Umweltzerstörungen mit sich gebracht. Ausgeblendet wird dabei, dass die Sowjetunion seit ihrer Gründung der unerbittlichsten Feindschaft seitens der restlichen, kapitalistischen Welt ausgesetzt war, was in der Endphase nur noch als „Totrüsten“ zu bezeichnen war. Deshalb hatten die Länder des Ostblocks keine andere Wahl, als zuzusehen, dass sie in der – kapitalistisch bestimmten – Weltmarktkonkurrenz bestehen, denn auch für die militärische Konkurrenz sind letztlich die wirtschaftlichen Voraussetzungen ausschlaggebend. Die Gesetze dieser Wirtschaftskonkurrenz wirkten dadurch in die sozialistischen Staaten hinein und brachten den Zwang mit sich, Rücksichten auf die Umwelt zurückzustellen. Somit hatten auch die ökologischen Zerstörungen im Ostblock ihren Grund in den Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise. Marx kann man das jedenfalls nicht in die Schuhe schieben.

Klassenbewusstsein

Vor diesem Hintergrund ist hervorzuheben, dass die MLPD, die bei den oben erwähnten K-Gruppen einzuordnen oder aus ihnen hervorgegangen ist, die Bedeutung der Umwelt- und insbesondere der Klimafrage erkannt und ihr 2014 das Buch „Katastrophenalarm“ gewidmet hat, dessen erweiterte Fassung von 2024 hier besprochen wird. Darin werden auch die bereits von Marx und Engels gegebenen Hinweise und Erklärungen zum zerstörerischen Umgang des Kapitalismus mit den natürlichen Lebensgrundlagen aufgeführt. Und all das wird in Bezug auf die sich zur Katastrophe steigernden gegenwärtigen und künftig zu erwartenden Manifestationen gesetzt und ausführlich erläutert. So weit ist es also eine Bilanz dessen, was der Kapitalismus an Verheerungen auf dem Globus anrichtet.

Bedenklich wird es allerdings, wenn es heißt: „Die Notwendigkeit der internationalen sozialistischen Revolution begründet sich also nicht mehr allein aus den Klasseninteressen der Arbeiterklasse, sondern auch aus dem Interesse der Menschheit zu überleben und dazu die natürliche Umwelt zu erhalten. Der unauflösliche Zusammenhang von proletarischem Klassenkampf für die vereinigten sozialistischen Staaten der Welt und Kampf zur Rettung der Menschheit ergibt sich aus diesem gemeinsamen strategischen Ziel.“ (Engel u.a. 2024, S. 425, Herv. im Orig.)

Ist das nicht eine seltsame Gegenüberstellung? Denn wenn die Menschheit nicht überlebt, werden auch die Interessen der Arbeiterklasse gegenstandslos. Das logisch Umfassendere wird zu einem bloßen Zusatz, der zum Speziellen hinzutritt. Es ist dies die Art, wie das Autorenkollektiv die Klimathematik in sein traditionsgebundenes Ideengebäude einbaut. Es handele sich hier lediglich um „eine Modifizierung und zusätzliche Erweiterung der Strategie der internationalen sozialistischen Revolution“ (ebd., S. 424).

Hier wird anschaulich, was oben als Verkennung der Realität angesprochen wurde. Es wird die Tradition der – einst – revolutionären Arbeiterbewegung beschworen, obwohl es diese gar nicht mehr gibt, da der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital nur noch in systemkonformen Bahnen ausgetragen wird. Es gibt also keine revolutionäre Arbeiterbewegung mehr, so dass auch nicht davon die Rede sein kann, deren Strategie „zu erweitern“. Eine Bewegung, die eine revolutionäre Strategie verfolgt, muss erst neu entstehen. Aber ob „zusätzliche Erweiterung“ oder unabhängig bestehende Notwendigkeit, in jedem Fall ist mit der Entwicklung einer revolutionären Strategie ein äußerst anspruchsvolles Ziel gesetzt. Was erfahren wir dazu?

„Die entscheidende Mehrheit der Arbeiterklasse und die breiten Massen müssen den Kampf um die Rettung der Menschheit […] zu ihrer Sache machen. […] Sie können darauf vertrauen, dass der Prozess der globalen Umweltkatastrophe Milliarden Menschen gegen das imperialistische Weltsystem aufbringen wird.“ (Ebd., Herv. im Orig.)

Ein hübscher Einschub: „und die breiten Massen“. Damit gestehen die Autoren unter der Hand ein, dass der Fokus auf die Arbeiterklasse und die Globalität der Klimakatastrophe logisch nicht so ganz koinzidieren. Aber zur eigentlichen Sache: Dass bereits die Wahrnehmung der Umweltkatastrophe genügt, um zur Kritik des Systems zu gelangen, ist reines Wunschdenken. Zeigen denn nicht gerade die „braven“ Proteste der Klimaaktivisten, die sich auf Appelle an die – demnach immer noch als potenzielle „Retter“ aufgefassten – Politiker beschränken, dass ein solcher Übergang zur Systemkritik keineswegs automatisch erfolgt?

Dafür ist Aufklärung nötig, und die wird durch die Unterstellung eines solchen Automatismus eigentlich für überflüssig erklärt und damit letztlich verhindert. Um „gegen das imperialistische Weltsystem“ aufgebracht zu sein, müssen die Leute erst einmal einen Begriff von diesem haben und verstehen, dass die unschönen Erfahrungen ihren Grund in einem „System“ haben. Das ist, wie man sieht, alles andere als selbstverständlich, auch wenn die Erfahrungen noch so katastrophal sind. Das war (und ist) übrigens auch bei den Arbeitskämpfen, auf die sich das Autorenkollektiv immerzu bezieht, nicht anders: Die prekäre Situation der Arbeiter im Kapitalismus besteht – bei allen Veränderungen in der Entwicklung der Produktivkräfte, im Zugriff auf globale Ressourcen oder in der politischen Betreuung – nach wie vor fort. Doch anders, als es vor hundert Jahren wenigstens bei einem Teil der Arbeiterschaft noch der Fall war, gibt dies heute zu keinem revolutionärem Klassenbewusstsein mehr Anlass.

Dennoch einen solchen Automatismus bei der Entstehung des Bewusstseins zu unterstellen, gehört zu den theoretischen Grundannahmen des von der MLPD vertretenen Traditions-Marxismus. Vor hundert Jahren mag diese Annahme angesichts massenhafter antikapitalistischer Kämpfe plausibel geklungen haben, obwohl sie auch damals nicht richtig war. Aber heute wirkt sie nur noch wie ein verloren dastehendes Versatzstück aus alten Zeiten, wobei anzumerken ist, dass die Theorie vom automatisch entstehenden proletarischen Klassenbewusstsein bestimmt nicht die Auffassung von Marx wiedergibt: Er hätte sich sonst die jahrzehntelange Arbeit am „Kapital“ ersparen können.

Ganz entgangen ist das Problem den Autoren nicht. Aber wie auch immer – es wird verbal übertüncht: „Der Kampf zwischen der kleinbürgerlichen und der proletarischen Denkweise ist zur ausschlaggebenden Frage für die Entwicklung des Klassenkampfs geworden.“ (Ebd., S. 432) Der Gedanke dahinter ist offenbar: Wenn die Arbeiter nicht wie erwartet automatisch zur richtigen „proletarischen Denkweise“ gelangen, dann muss das auf den Einfluss anderer Klassen zurückgehen, auf die „Kleinbürger“. Vor hundert Jahren mag das noch einigermaßen plausibel geklungen haben, denn damals gab es noch eine einigermaßen umfangreiche Klasse von selbst-wirtschaftenden Handwerkern und Händlern, so dass man sich einen verderblichen Einfluss von deren Gedankenwelt auf die der Arbeiter vorstellen konnte, auch wenn man sich schon damals hätte fragen müssen, aus welchem Grund denn die Arbeiter Gedanken vom Kleinbürgertum übernehmen sollten, und ob es sich bei den monierten Fehlern wirklich um etwas spezifisch Kleinbürgerliches handelt.

Aber in der heutigen Gesellschaft führt das Kleinbürgertum nur noch eine – zudem meist von den großen Kapitalen materiell abhängige – Randexistenz. Es ist also unter den gegebenen Umständen alles andere als klar, was gemeint sein soll, wenn das Autorenkollektiv zum „Kampf mit der kleinbürgerlichen Denkweise, vor allem der kleinbürgerlich-ökologischen, -individualistischen und -egoistischen sowie mit der kleinbürgerlich-antiautoritären und kleinbürgerlich antikommunistischen Denkweise“ (ebd., S. 432/33) auffordert. Bloße Etikettierungen ersetzen hier die inhaltliche Analyse der Illusionen, Fehlschlüsse und Irrtümer, die gegenwärtig – nicht nur bei den Arbeitern – vorherrschen. Ein solcher Angriff auf das herrschende Bewusstsein wäre aber gerade nötig, um die Leute mit Argumenten überzeugen zu können; die bloße Etikettierung „Du hast aber ein kleinbürgerliches Bewusstsein“ wird niemanden dazu bewegen, seinen Standpunkt zu überdenken.

So erfreulich es also ist, dass die MLPD mit ihrer Veröffentlichung (und entsprechenden Aktivitäten, über die man sich auf ihrer Website informieren kann) die Klimakatastrophe als eine weitere Errungenschaft des Kapitalismus herausstellt und angreift, so enttäuscht doch, wie wenig darin an Argumenten zur Agitation, also für die Überzeugungsarbeit, bereitgestellt wird. Ein Versuch, das vorherrschende falschen Bewusstsein, die allgegenwärtigen Illusionen, Fehlschlüsse und Irrtümer – auch und vor allem in Bezug auf die Klimafrage – einer konsequenten Kritik zu unterziehen, wurde übrigens mit dem Buch „Nicht nur das Klima spielt verrückt“ (Netzsch 2024) unternommen. Es wurde ja schon bei IVA vorgestellt, wobei auch die Schwierigkeiten benannt wurden, eine systemkritische Bewegung auf die Beine zu bringen.

Nachweise

Peter Decker/Konrad Hecker, Das Proletariat. Politisch emanzipiert – Sozial diszipliniert – Global ausgenutzt – Nationalistisch verdorben. Die große Karriere der lohnarbeitenden Klasse kommt an ihr gerechtes Ende, München 2002, https://de.gegenstandpunkt.com/.

Stefan Engel, Monika Gärtner-Engel, Gabi Fechtner, Die globale Umweltkatastrophe hat begonnen! 
Was tun gegen die mutwillige Zerstörung der Einheit von Mensch und Natur? Essen (Neuer Weg) 2024. (Erweiterte Neuausgabe der Veröffentlichung „Katastrophenalarm“ von 2014) Bezug über: https://www.people-to-people.de/.

Rudolf Netzsch, Nicht nur das Klima spielt verrückt – Über das geistige Klima in der heutigen Gesellschaft und die fatalen Folgen für das wirkliche Klima der Welt. München (Utzverlag) 2023, ISBN 978-3-8316-2420-1, https://www.literareon.de/index.php/catalog/book/42420. Bei 99zu1 gibt es dazu ein Interview mit dem Autor als Video-Podcast: https://www.youtube.com/watch?v=iwKbgaRm-uo

Kohei Saito, Natur gegen Kapital – Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus. Frankfurt/Main (Campus) 2018.


Juli

Deutsche Geschichte

Die Website Rätekommunismus veröffentlicht Texte aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die nicht in den Mainstream Eingang gefunden haben, so jetzt einen weiteren Band von Julian Borchardt. Dazu ein Hinweis der IVA-Redaktion.

Auf der Website raetekommunismus.de sind verschiedene Schriften von Julian Borchardt wieder oder erstmals zugänglich gemacht worden, und zwar als Rückblick auf einen Dissidenten der deutschen Arbeiterbewegung, der auch heute noch Lehrreiches mitzuteilen hat (siehe https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts24#ein_dissident_der_deutschen_arbeiterbewegung). Der 1868 in Bromberg geborene Borchardt, vor 1914 Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen in Deutschland und zeitweise SPD-Abgeordneter im preußischen Landtag, versuchte als „Wanderprediger“ die Grundlagen der sozialistischen Kritik unter die einfache Bevölkerung zu tragen und veröffentlichte auch eine Kurzfassung des „Kapital“ von Karl Marx. In den Jahren 1913 und 1914 wurde sein Verhältnis zur SPD immer angespannter, da er eine parteikritische Zeitschrift herausgab. Der endgültige Bruch erfolgte dann mit der Zustimmung der SPD-Mehrheit zu den Kriegskrediten am 4. August 1914. 1916 wurde seine Zeitschrift verboten, er selber in „Schutzhaft“ genommen.

In den 1920er Jahren beschäftigte sich Borchardt vor allem mit geschichtlichen Fragen. Zwei Bände „Deutsche Wirtschaftsgeschichte“ erschienen 1922 und 1924, ab 1927 plante er eine kritische Bestandsaufnahme der deutschen Geschichte vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Gegenwart. Eine Veröffentlichung kam jedoch nicht zustande. Das Herausgeberteam Ursula Ippers, Hans-Peter Jacobitz und Thomas Königshofen, das an der Rätekommunismus-Website mitarbeitet, hat in den Archiven des Amsterdamer Internationalen Instituts für soziale Geschichte Fragmente des Manuskripts ausfindig gemacht und den ersten Band der „Deutschen Geschichte“ zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Anfang des Jahres veröffentlicht. Dem ist jetzt der zweite Band übers 18. Jahrhundert gefolgt.

Geschichte des 18. Jahrhunderts

Der zweite Band beschränkt sich nicht auf den Abdruck des unvollständigen handschriftlichen Manuskripts bis in die Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg. Die Herausgeber haben dem eine kritische Sichtung der Lehrpläne und Schulbücher für Geschichte der vergangenen 130 Jahre zum Thema „Friedrich II.“ hinzugefügt und die Unterschiede der Geschichtsbetrachtung zwischen autoritären, demokratischen, faschistischen und realsozialistischen Standpunkten herausgearbeitet. In dem ersten Band blickte Borchardt auf die Herrschaften in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg zurück. Das setzte er im nun erschienenen zweiten Band fort.

Nach dem Westfälischen Friedensschluss von 1648 ging das kriegerische Treiben in Europa nahtlos weiter. Die deutschen Klein- und Kleinststaaten bekriegten einander, der deutsche Kaiser in Wien legte sich wiederholt mit den Franzosen an, und die Franzosen hatten ihren Hauptfeind jenseits des Kanals. Borchardt macht klar: Hier ging es nicht nur um die Vormacht in Europa, sondern gleich in der ganzen Welt. Russland und die Türkei durften daher nicht unerwähnt bleiben. Sie mischten sich tatkräftig in die kontinentalen Konflikte ein. Und die nördlichen Nachbarn Deutschlands, Dänemark und Schweden, versuchten in Konkurrenz zueinander ihren jeweiligen Einfluss in Zentraleuropa zu stärken.

Borchardt beschreibt die Auseinandersetzungen auch im Hinblick auf die Auswirkungen, die die beständigen militärischen Konflikte für die Bevölkerung in Europa hatten. Die Rücksichtslosigkeit, die die Staatenlenker und Feldherren dabei an den Tag legten, erklärt er aus den politischen und militärischen Notwendigkeiten, die sich aus der Staatsräson ergaben. Gegen die übliche Personalisierung der Geschichte als Werk weitsichtiger Regenten oder genialer Feldherren schreibt er konsequent an. Bei seinen Erläuterungen zur Kriegführung im Ancien Régime ging es ihm gerade darum, gegen Geschichtsklitterungen von der guten alten Zeit oder der Güte diverser Herrschaften vorzugehen, so z.B. gegen den Mythos von Prinz Eugen, dem edlen Ritter. „Alle Türken zu verjagen“, war sein Ziel, wie es im berühmten Lied heißt; und er „tät als wie ein Löwe fechten, als General und Feldmarschall“, alles unter dem Motto: „Halt't euch brav, ihr deutschen Brüder, greift den Feind nur herzhaft an!“.

Borchardt schreibt zu dem verehrten adligen Retter des Abendlandes vor der Türkenflut von Anno Dunnemals: „Im Übrigen verdient es Erwähnung, dass der kaiserliche Feldherr Prinz Eugen die rücksichtslose Verwüstung des Bayernlandes – obwohl es doch deutsches Land war – ganz ebenso beabsichtigte und auch ins Werk setzte, wie das die Franzosen 1689 in der Pfalz getan hatten. In einem vor der Schlacht geschriebenen Briefe des Prinzen heißt es wörtlich: ‚So sehe ich letztlich kein anderes Mittel, als dass endlich das ganze Bayernland, samt allen umliegenden Bezirken totaliter verheert und verwüstet werden müsste, um fürs Künftige denen Feinden die Gelegenheit zu benehmen, dass sie weder aus dem Bayernland noch sonsten dort herum den Krieg nicht länger prosequieren (fortsetzen) können.‘ Der Wortlaut zeigt, dass der Prinz sich dabei keiner besonderen Brutalität bewusst war, sondern dass ihm die Verwüstung einfach als notwendiges Kriegsmittel erschien, um bestimmte militärische Zwecke zu erreichen.“

Nachweise

Website Rätekommunismus: https://www.raetekommunismus.de/

Julian Borchardt, Deutsche Geschichte – Band I: Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Herausgegeben von Ursuala Ippers/Hans-Peter Jacobitz/Thomas Königshofen. Neuss 2024, 237 Seiten, 8,45 Euro, ISBN 979-8879492408. Bezug über amazon.de.

Julian Borchardt, Deutsche Geschichte – Band II: Das 18. Jahrhundert. Herausgegeben von Ursula Ippers/Hans-Peter Jacobitz/Thomas Königshofen. ‎Neuss 2024, 296 Seiten, 10,70 Euro, ISBN‎ 979-8332736193. Bezug über amazon.de.


Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz

Zu Wirklichkeit und Schein der demokratischen Herrschaftsform angesichts des neuen Leitbilds „Kriegstüchtigkeit“ eine Analyse von Manfred Henle.

Seit dem 23. Mai 1949 herrscht laut BRD-Grundgesetz in Deutschland die Staatsform der Demokratie – zuerst im Westen und seit dem 3. Oktober 1990 auch auf dem Territorium der ehemaligen DDR über die dortige Bevölkerung. Auftraggeber der deutschen Macher und Verfassungsexperten zur Einführung dieser Staatsform waren die USA mit ihrem Interesse, Deutschland zu einem antikommunistischen vorwärtsorientierten Frontstaat auf dem europäischen Kontinent herzurichten, und zwar unter der Bedingung einer offiziell verordneten Entnazifizierung.

Das Grundgesetz hingegen beginnt gleich im ersten Satz mit einer historischen Unwahrheit, um nicht zu sagen mit einer Täuschung, indem es in seiner (bis heute gültigen) Präambel verkündet: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Glaubt man dem, dann hat sich das deutsche Volk „im Bewusstsein seiner Verantwortung“ 1949 auch gleich noch den Auftrag erteilt, ein Wiedervereinigungsgebot zu vollstrecken, nämlich „die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Einen imperialistischen Anspruch kann man dem Grundgesetz also ohne Mühe entnehmen. Es strebte nach einem wiedervereinigten Groß-Deutschland, wie es heute als NATO-Mitglied und mittels eines vereinten Europas globale Zuständigkeit für Krieg und Frieden beansprucht.

1. Die Staatsform Demokratie

Mit der neuen Staatsform haben sich die politischen Macher im historischen Nachfolgestaat des Nationalsozialismus auftragsgemäß, aber auch aus geläuterter Einsicht in den Nutzen der Demokratie für souveränes politisches Handeln und Wirken ein – wie sie selbst formulieren – rundum gelungenes Herrschaftsverhältnis gegeben, zu dem sich die Menschen im Lande nur beglückwünschen können: „Grundgesetz und Friedliche Revolution, was für ein doppeltes Glück ist das! … In Bewunderung und Dankbarkeit schauen wir auf die Arbeit der Mütter und Väter des Grundgesetzes … Diese Verfassung ist es wert, dass wir sie feiern – und dass wir sie schützen!“ (Steinmeier-Rede, 23.5.2024)

Das feiert man jetzt: ein grundgesetzlich garantiertes Herrschaftsverhältnis, das – wie jeder moderne Staat – den Gegensatz von Regierenden und Regierten ebenso kennt wie den von Gesetzgebern und zu Gesetzesgehorsam Verpflichteten. Ein Herrschaftsverhältnis, das im Interesse seiner ausgreifenden Standort-, Weltmarkt- und Weltmachtkonkurrenz eine Klassengesellschaft unterhält, die bekanntlich durch eine sich immer weiter öffnende „Schere zwischen arm und reich“, durch verbreitete Wohnungsnot und sonstige Notlagen der Massen auffällt. So regiert ein staatliches Interesse mit all seiner Gewalt über den Willen des Volkes, mit Handlungs- und Entscheidungsfreiheit gegenüber dem verfassungsrechtlich eingeräumten „Freiheitsraum“ des Einzelnen, mit einem eigentumsrechtlich garantierten und gesicherten Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital sowie der Subsumtion der Bürger unter das Gebot, gegeneinander zu konkurrieren. Fazit, wie Peter Nowak im Untergrund-Blättle schrieb: „75 Jahre Grundgesetz ist 75 Jahre Ausbeutung“.

Die grundgesetzlich verbürgte Institutionalisierung der Demokratie als verbindliche Form des politischen Herrschens über die subordinierte antagonistische Gesellschaft sowie die unausbleiblichen negativen Folgen ihrer staatlichen Betreuung für die Mehrheit der Bevölkerung gebieten, deren Zustimmung zum demokratisch angeleiteten Ganzen kontinuierlich einzuholen. Dies wird mittels der organisierten Aufrufung des Volks als „Grundrechtsträger“, als „wahrer Souverän“ im Staat, zu bestätigen (vgl. Seifert/Hönig, GG, Taschenkommentar) periodisch verwirklicht – nämlich für eine Minute in der Wahlkabine.

2. Politische Kommunikation

Aber auch sonst wird das Volk an- oder aufgerufen: „Unabdingbar scheint mir auch eine deutliche Stärkung der politischen Kommunikation. Denn wenn sich die Komplexität der politischen Probleme erhöht, dann muss die Politik ihre Botschaften anpassen, um zu den Wählerinnen und Wählern durchzudringen“. (Gauck-Rede, 6.11.2023) Damit die freiwillige Zustimmung der Bevölkerung zur demokratisch organisierten Herrschaft mit ihren negativen Wirkungen auf die Mehrheit erhalten bleibt und dies zufriedenstellend im Interesse der Fortführung souveränen politischen Handelns nach innen und vor allem außen gelingt, bedarf es nicht nur der Institution der regelmäßig abgehaltenen demokratischen Wahl in Friedenszeiten.

Dabei ist die freiwillige Zustimmung des Volkes zum großen Ganzen zunächst keine Frage. Denn mit der demokratischen Verfassungsgebung ist erst einmal praktisch klargestellt, dass eben nicht alle Wünsche gleichzeitig erfüllt werden können. Der damit gesetzte Zwang, materielle Nöte im Interesse des „Gemeinwohls“ hintanzustellen, sich mit ihnen irgendwie zu arrangieren und die Lage hinzunehmen, wie sie nun einmal ist, bedeutet einen mehr oder weniger schmerzvollen Lern- und Erfahrungsprozess für den Einzelnen wie für die Bevölkerung: An dessen Ende hat die Einsicht in die alternativlose Realität der demokratischen Staatsordnung zu stehen. Und staatlicher Auftrag wie journalistisches Berufsethos gebieten es, den Menschen im Lande die offenbare Alternativlosigkeit tagtäglich vor Augen zu führen.

Eine schlechte Meinung über die negativen Erfahrungen darf – grundgesetzlich garantiert – natürlich jeder haben, als unmaßgebliche, private Meinung über „die Politik“, von der alles abhängt und an die sich alle wenden (was in der Demokratie damit an „lebendiger Öffentlichkeit“ zustande kommt, ist übrigens Gegenstand der Buchs „Medien.Macht.Meinung“ von Renate Dillmann, das Ende 2024 bei PapyRossa erscheint). Und wie gesagt, der verehrte Souverän kann für einen Tag seine unmaßgebliche Meinung im Wahlakt dahingehend geltend machen, dass er einer der angebotenen und erlaubten Personal-Alternativen seine Stimme gibt.

Allerdings ist es damit nicht getan. Denn die erzwungene freie Zustimmung zum Ganzen bleibt jederzeit widerrufbar, weshalb sie weiter zu bearbeiten und zu betreuen ist. Dazu dient die 75 Jahre währende vielbeschworene, auch massenmedial betriebene, „politische Kommunikation“ als Methode der demokratischen Meinungs-, Urteils- und Willensbildung im vom Staat gewährten Reich der Meinungsfreiheit. Sie ist dem Inhalt und der Sache nach gekennzeichnet durch die Bekanntgaben der politischen Entscheidungen der Regierungsverantwortlichen und der Gesetzesmaßnahmen, auf die sich die Bevölkerung faktisch und geistig-moralisch einzustellen hat. Zugleich sind diese Bekanntgaben die immerwährende Klarstellung, dass es allein die Staats-Meinung ist, die in der Demokratie zählt und damit, ebenfalls grundgesetzlich garantiert, mehr als eine bloße Meinung ist.

Mit den öffentlichen Bekanntgaben ist die jeweils fällige innen- und außenpolitische Staats-Meinung als die für jeden geltende und anzuerkennende „Wahrheit“ und Faktizität rechtsverbindlich gesetzt. Die unwidersprechliche staatliche Meinungskundgabe verdient in jedem Fall Respekt in der demokratischen Welt der Toleranz, die sonst die Relativierung jeder Meinung gebietet. Dabei erklären die Kommunikatoren gleich selber, dass dies keine „Wahrheit“ im strengen, wissenschaftlichen Sinne ist: Wegen der angeblichen Komplexität der Welt muss die Politik ihre Botschaften „anpassen, um zu den Wählerinnen und Wählern durchzudringen.“ (Gauck)

3. Die strategische Kommunikation und ihre Kultur

Die im Rahmen der politischen Kommunikation auch innenpolitisch anzuwendende „EU Strategic Communication“-Richtlinie (CEPOP, March 2021, coleurope.eu) unterstützt – massenmedial begleitet – das unentwegte staatliche Bemühen, die Haltung des Volkes zum Ganzen als Objekt einer geistig-moralischen „Orientierung“ ins Auge zu fassen. Gefragt ist heute freilich eine durch die „Zeitenwende“ diktierte Um- und Neuorientierung der ganzen Gesellschaft im Rahmen einer „strategischen Kultur“, deren übergeordnete Zielsetzung lautet: „Es gilt daher auch, die strategische Kultur in Deutschland weiterzuentwickeln und ein in der Breite unserer Gesellschaft verankertes Verständnis von Integrierter Sicherheit zu entwickeln.“ (Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung, RRGV, 5.6.2024, bmi.bund.de)

Das geschieht inzwischen unter ausgiebiger Inanspruchnahme der digitalen Errungenschaften, nunmehr einschließlich KI. Allzu große Mühe, die Zielgruppe der 80 Millionen Grundrechtsträger zu erreichen, muss sich die besagte Kommunikation dabei nicht geben. Die allein geltende Staats-Meinung ist ja auf sämtlichen Kanälen rund um die Uhr präsent. Die nach allen Regeln der „strategischen Kommunikation und Kultur“ bewerkstelligten öffentlichen Bekanntgaben der Staats-Meinung sind dabei buchstäblich Werbung: Einflussnahme, Propaganda für das vom Einzelnen und von der Bevölkerung getrennte und ihm entgegengesetzte staatliche Handeln der politischen Entscheidungsträger – in eins damit immer Werbung für die Staatsform Demokratie als gültige Herrschaft sowie fürs Gelingen dessen, was die Entscheidungsträger ins Werk setzen, um der „Herausforderungen“ Herr zu werden, die sie im Zuge ihres außen- und weltpolitischen Agierens ständig hervorbringen.

Etwaigen Fragen, woher denn eigentlich all diese Erfordernisse und Bedrohungen kommen, welche Subjekte sie in die Welt bringen, erledigt diese Kommunikation zum einen mit dem Hinweis, dass der breiten Bevölkerung sowieso keine tiefer gehende rationale Aufklärung geliefert werden kann: „Der Wunsch einer breiteren Öffentlichkeit, auf immer komplexere Sachverhalte immer einfachere Erklärungen zu finden, ist schwierig zu bedienen“. (R. Kiesewetter, IP, Juli/August 2017, internationalepolitik.de) Zum andern überwindet aber die politische Kommunikation leicht solche Schwierigkeiten, indem sie die Zielgruppe mit einer kleinen Umbildung bzw. Verschönerung der demokratischer Realität und damit auch die angebliche Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion bedient:

„Es geht darum, mit einer erhellenden Vereinfachung auch komplexe Sachverhalte unter die Menschen zu bringen, dass die begreifen: Die da oben, die wir gewählt haben, die sorgen sich um uns, die machen sich bewusst, in welchen Schwierigkeiten wir sind“. (Gauck, 2.10.2022) Die „erhellende Vereinfachung“ unter die Menschen bringen: Diese Aufgabe demokratischer Meinungs- und Willensbildung ist umso mehr gefordert, je radikaler die mittels ihrer Verfassung agierende politische Herrschaft den grundberechtigten Staatsbürgern einiges mehr an Verzicht, Dienst- und Opferbereitschaft abverlangt als in Friedenszeiten üblich.

4. Die zweite Zeitenwende

Die Zeitenwende, die Klarstellung der politischen Macher, dass Kriegswilligkeit, -bereitschaft und -vorbereitung auch vom Volk zu erbringen sind, verlangt einen breiten Mentalitätswandel. Der Wille zum Krieg bei „denen da oben“ (Gauck) ist vorhanden. Ohnmächtig bleibt er allerdings, solange dieser Wille von der Bevölkerung nicht geteilt wird. Deshalb der Auftrag, den sich die demokratische Herrschaft erteilt: „Unser Mindset, die Mentalität muss sich verändern. Wenn eine ganze Generation keine Erfahrung mit Bedrohung von außen gemacht hat, braucht das seine Zeit“ (Pistorius, 27.10.2023). Das sei umso notwendiger, da sich angeblich die Bundesregierung auch heute noch schwer tut, „den militärischen Werkzeugkasten in den Mittelpunkt unserer politischen Kommunikation zu stellen“ (so die ehemalige NATO-Strategin Babst im ZDF, 29.10.2023)

Die Staats-Meinung, der erklärte politische Wille zum Krieg in der Form einer „Zweiten Zeitenwende“, die mittels eines gelungenen Mentalitätswandels der Bevölkerung ohne Wenn und Aber die „komplette Fokussierung von Bundeswehr und Gesellschaft auf den Krieg gegen Russland“ gebietet (German Foreign Policy, 10.6.2024), lässt die grundberechtigten Bürger unmissverständlich wissen: „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.“ (Pistorius-Rede, 5.6.2024) Verlangt ist eine „Steigerung gesamtstaatlicher Wehrhaftigkeit, Resilienz und Nachhaltigkeit“ (RRGV). Deshalb darf am allerwenigsten in Zeiten der Kriegsvorbereitung die politische Kommunikation von oben nach unten versagen, wo sich „die Politik eingestehen (muss), dass es ihr häufig nicht gelingt, verständlich zu machen, was sie tut und warum sie es tut“ (Steinmeier-Rede).

Die runde Jahreszahl 75 – auch bei der NATO – bietet da die willkommene Gelegenheit, angesichts der konkreten Vorbereitung des großen (NATO-)Kriegs und der verlangten Verzichts- und Opferbereitschaft im Volk die staatlich organisierte Willensbildung definitiv auf das Ziel auszurichten, die gesamte der politischen Macht subordinierte Gesellschaft zum Ja zu solcher Bereitschaft zu bewegen. Ein Loblied und eine Jubiläums-Gratulation zur NATO-Kriegsvorbereitung seitens der demokratischen Herrschaft ist anlässlich der runden NATO- und Demokratie-Jahreszahl fällig. Steinmeier gratuliert zu 75 Jahren NATO, indem er stolz berichtet: „Wir haben 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr mobilisiert, und wir sind dabei, eine komplette deutsche Brigade dauerhaft an der Ostflanke in Litauen zu stationieren. Wir werden weiterhin in unser Militär investieren“. (Steinmeier, 3.4.2024)

Dabei versteht es sich von selbst, dass jeglicher aufkeimenden Meinung zu begegnen ist, die Krieg, die maximal denkbare Form physischer und traumatisierender Gewaltanwendung, als Widerspruch zu den hohen Werten der Demokratie sieht oder die Krieg überhaupt ablehnt, gleich, welche Gründe sie dabei vorbringt. Solche Meinungen gehören jetzt, wo es ernst wird, im demokratischen Reich von Toleranz und Meinungsfreiheit ausgegrenzt und der öffentlichen Aufmerksamkeit entzogen, wenn nicht gleich verfolgt. Das soll inzwischen auch gegenüber Forschung und Lehre gelten. „Wissenschaft im Weltkriegsformat … Formierung der deutschen Wissenschaftslandschaft … die deutsche Hochschullandschaft immer offensiver auf die politische Linie des Auswärtigen Amts festzulegen“, lautet die politische Generallinie (German Foreign Policy, 24.6.2024).

5. Demokratische Argumente für Kriegsbereitschaft und Krieg

In eins mit der Ausrichtung der politischen Meinungs-, Urteils und Willensbildung auf den geplanten großen Krieg hin ist die demokratische Herrschaft so frei, das ohnehin moralisch gefestigte Bewusstsein der Bevölkerung rund um die Uhr mit reichlich sachfremden „Argumenten“ zu bedienen, z.B. von der Art: „Schließlich handelt es sich um ein Wesensmerkmal der Demokratie, in Streitfragen nicht auf gewaltsame Mittel zurückzugreifen.“ (Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg)

Eine weitere fest etablierte Methode, mit falschen Argumenten einen kriegswilligen Mentalitätswandel in der Bevölkerung zu erwecken und voranzutreiben, besteht darin, Russland einen neo-zaristischen Imperialismus und die Rückkehr zum slawophil-panslawistischen 19. Jahrhundert „in seinem neoimperialen Wahn“ (Gauck, 6.11.2023) anzudichten. Das geschieht unter geflissentlicher Aussparung des seit 1949 in der Präambel des Grundgesetzes fixierten und offen erklärten deutschen Imperialismus; unter Aussparung der imperialistischen Großtaten des NATO-Westens seit 1945; sowie unter Aussparung des erklärten imperialistischen NATO-Selbstverständnisses, demnach dessen oberste Priorität – treu nach Truman – darin besteht, im Interesse US-geführter westlicher Weltherrschaft, die NATO als global unbestreitbare Militärmacht zu institutionalisieren, in deren Jargon gesprochen: „Relations with partners across the globe“. (NATO 2030, 7.3.2024, nato.int)

Was z.B. die Vorgeschichte des Ukrainekriegs angeht, da gehört – um der kriegstauglichen Deutungshoheit willen – gleich eine grundlegende Umschreibung der Geschichte dazu. Wer den Kontext berücksichtigt, macht sich rasch einer unzulässigen „Kontextualisierung“ schuldig: „Über eine bestimmte ‚Kontextualisierung‘ werden den westlichen Staaten, den USA und der NATO provozierende Schritte – etwa im Falle der Osterweiterung – vorgeworfen, die Russlands Handeln in die Nähe einer Notwehrhandlung zu bringen versuchen“. (Konrad-Adenauer-Stiftung, 16.2.2024, kas.de)

Fester Bestandteil der demokratisch organisierten politischen und strategischen Kommunikation ist inzwischen auch die Methode der prophetischen Vorhersagen. Die führt, ohne sich über eine Glaskugel zu beugen, zu dem unzweifelhaften Ergebnis: „Man muss davon ausgehen, dass Russland 2029 in der Lage sein wird, einen Nato-Staat anzugreifen.“ (Pistorius, „In 5 Jahren kann Putin die NATO angreifen“, 12.6.2024, bild.de) Ebenso gut könnte man von allem Möglichen anderen ausgehen, was wann passieren könnte. Bekundet wird mit der Vorhersage nur die eigene unbedingte Kriegswilligkeit.

Assistiert – ebenfalls rund um die Uhr – wird die demokratische Willensbildung angesichts der neuen Zeitenwende durch eine Verbreitung sachfremder, aus dem eigenen Interesse geborener „Argumente“ von Seiten der Leitmedien, der einschlägigen Denkfabriken, der sonstigen „Experten“ sowie der Moderatoren des Polit-Talkshow-Betriebs. Sie alle zeichnen sich durch einen ausgeprägten Willen zum Krieg aus und tun sich beim Ausgrenzen und moralischen Herabsetzen der davon abweichenden Meinungen hervor. Politisches Ziel dieser strategischen Kommunikation ist die gezielte Verbreitung von moralischen Verachtungs- und Verdammungsurteilen gegenüber den vom offiziellen Kriegskurs abweichenden Ansichten.

Allerdings: Einfach nur roh und ungeschminkt den Willen zum Krieg, zur Opferbereitschaft, zur Todes- und Tötungsbereitschaft von der Bevölkerung zu verlangen, erscheint der demokratischen Herrschaft nicht hinreichend, um den Mentalitätswandel erfolgreich herbeizuführen. Die propagandistische Verwandlung und Veredelung der groben Wirklichkeit der Demokratie, der staatlichen Gewalt, in einen schönen Schein ist zwar seit 1945 selbstverständlicher Usus demokratischer Meinungsbildung. Aber was den staatliche Willen zum Krieg angeht, leistet die altbewährte und von allen Staaten der Neuzeit in Anschlag gebrachte Ideologie namens „Verteidigung – Sicherheit – Schutz“ beste Dienste, um diesen Willen zu veredeln. In der westlichen Wertegemeinschaft bedeutet das zugleich Schutz der Werte und natürlich der Bürger, die dafür geopfert werden sollen.

Die neue Zeitenwende, die ethisch-moralisch Rechtfertigung des nunmehr konkret geplanten Gewalteinsatzes gegen Russland, der Millionen Menschen, ob nun Soldaten oder Zivilisten, zum Abschuss freigibt, bedarf einer äußerst intensiven Verhimmelung und Verschönerung der demokratischen Gewaltbereitschaft: „Das lässt sich nur erreichen, wenn wir unsere langfristigen außenpolitischen Ziele klar benennen und erklären, aus welchen Werten und Interessen sich diese Ziele ableiten“ (Kiesewetter).

6. Die Propaganda des schönen Scheins

„Wir müssen die Werte verteidigen, die uns im Kern ausmachen. Die dürfen nicht zur Disposition stehen!“ (Steinmeier-Rede) „Der schönen Welt ist nichts so unerträglich als das Erklären.“ (Hegel) Mit ihren Bekanntgaben dazu, worauf sich die Bevölkerungen einzustellen haben, legen die demokratischen Kriegsplaner der NATO-Wertegemeinschaft – zwar nicht ohne schönfärberische Sprachregelungen, aber insgesamt – ungeschminkt dar, was ansteht. Und das, ohne Sorge zu haben, es könnte zu Massenprotesten oder gar Generalstreiks führen. So gehört längst zum allgemein anerkannten Alltagswissensbestand: „Wir“ brauchen eine geopolitisch-globale, auf jeder militärischen Eskalationsstufe überlegene, souveräne Handlungs-, also Kriegsfähigkeit. In Deutschland mit dem Klartext verbunden: „Wir“ werden „Führungsmacht“.

Das schützt nach Ansicht der kriegswilligen Staats-Meinung jedoch nie davor, dass sich innerhalb der subordinierten Gesellschaft Zweifel oder Fragen bemerkbar machen und so ein Erklärungsbedarf entsteht – sowohl hinsichtlich der groben Wirklichkeit von Demokratie als auch angesichts der konkreten, unverhüllten Bekanntgaben zum kommenden Krieg. Einen solchen aus Unzufriedenheit geborenen Zweifel kennt man ja vor allem aus dem Osten Deutschlands. Zu erzeugen ist daher ein bedingungslos akzeptierter schöner Schein: die Verwandlung der Wirklichkeit der Staatsform Demokratie in ein Ideal, in einen immateriellen Wert, der in der moralischen Vorstellung der Menschen als die Versinnbildlichung des Guten, Wahren und Schönen überhaupt gelten soll. Das moralische (Selbst-)Bewusstsein, seit jeher zu dem Gedanken erzogen, das Gute zu wollen und auf seiner Seite zu stehen, soll Abstand nehmen von der Wirklichkeit, die es tagtäglich erlebt und am eigenen Leib erfährt. Intensiv leben soll der Bürger den schönen Schein, das ihm von oben vorgestellte Ideal.

Die propagandistische Verwandlung der politischen Wirklichkeit in eine verschönerte Welt, in der „das Erklären“ (Hegel) so gut wie ausgelöscht ist, bedient sich dazu des Verfahrens der inszenierten, idealisierenden Abstraktion: Die störenden realen Eigenschaften, die der Demokratie als Staatsform immanenten Bestimmungen einer Herrschaft, die eine – auf allen Ebenen ihrer Hierarchie – antagonistische Gesellschaft betreut, gehören weggelassen. An die Stelle der Verfassungswirklichkeit tritt in einem zweiten Schritt durch abstrahierende Konstruktion und Umschreibung die Vorstellung der Demokratie als eines sittlich-moralischen Gutes, als Ideal, das höchste Anerkennung und Wertschätzung seitens der Bevölkerung verdient. Dieser zweite Schritt der politisch motivierten Abstraktion kommt dabei zu dem Ergebnis, das er von vornherein unterstellt.

So entsteht ein Phantasiegemälde von Demokratie, wie zur Zeit an der Feier des Grundgesetzes zu beobachten: „Ein Meisterwerk … Bestechend klar, nüchtern oft und doch so elegant: 12.500 Worte in 146 Artikeln … Diese Verfassung gehört zum Besten, was Deutschland hervorgebracht hat … Eigentlich ein Wunder … das großartige Werk … In Bewunderung und Dankbarkeit schauen wir auf die Arbeit der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Was sie vor 75 Jahren auf den Weg gebracht haben, ist ein großartiges Geschenk. Ein Geschenk, das nicht nur Erinnerung verdient, sondern das wir im Alltag der Republik pflegen, bewahren und verteidigen müssen. Ich bin fest überzeugt: Diese Verfassung ist es wert, dass wir sie feiern – und dass wir sie schützen“. (Steinmeier-Rede)

Berechnet ist das propagandistische Ausmalen der Demokratie als eines Wunders, das zu Dank und Gehorsam verpflichtet, darauf, diese Staatsform, „unsere einzigartige und bemerkenswerte Demokratie“ (von der Leyen, 13.9.2023), begriffslos zu leben. Eben so, dass dieser Wert allen anderen Werten als moralisches Gebot voran gestellt wird und als innere Maxime des Willens des Einzelnen gilt. Ein Wert, der unter allen Umständen zu „verteidigen“ ist, soll heißen, für den sich hinzugeben und zu opfern, ein Gebot der Liebe, nämlich der Vaterlandsliebe ist. Dann kann sie erstrahlen, die Sonne oder der „Sommer für Demokratie in Deutschland“ aus „purer Demokratieliebe“ (siehe: demokratie-liebe.de).

Oder anders formuliert: „Rein wertrational handelt, wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienste seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer ‚Sache‘ gleichviel welcher Art, ihm zu gebieten scheinen … wertrationales Handeln … ein Handeln nach 'Geboten' oder gemäß 'Forderungen', die der Handelnde an sich gestellt glaubt“. (Max Weber, 1921)

7. Zweite Zeitenwende und radikale Selbstbehauptung

„Das Gesetz der Moral veranlaßt die Menschen, mit ihrem Herrscher völlig übereinzustimmen, so daß sie ihm ohne Rücksicht auf ihr Leben folgen und sich durch keine Gefahr erschrecken lassen“. (Sun Tzu, The Art of War, ca. 500 v. Chr.)

Haben es die „politische“ und die „strategische“ Kommunikation einschließlich der Propaganda des schönen Scheins dahin gebracht, den Idealismus der demokratischen Werte nachhaltig als Gesinnung und Haltung in der Mehrheit der Bevölkerung zu verankern, dann wähnt sich die wertebewusste Bevölkerung auf der Seite des Guten, Wahren und Schönen gegenüber dem Bösen, dem Verdammens- und Verachtenswerten; dann ist für sie die Frage von gerechter und ungerechter Gewalt und entsprechenden Kriegen soweit geklärt, dass sie aus Liebe zur Werteordnung und zum Vaterland jegliche Gewalt durch die heimischen Kriegsplaner gutheißt; dann ist sie gefühlsmäßig so weit, dass sie zur Bewahrung von Werten und Vaterland ihr Hab und Gut, ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel setzt, damit sich die Souveränität und globale Handlungsfreiheit der heimischen Machthaber siegreich behauptet; dann hat sich die falsche, die Wirklichkeit umkehrende Vorstellung endgültig verfestigt: „Der Staat sollte für die Menschen da sein – nicht umgekehrt“ (Steinmeier-Rede). Und das gleichgültig dagegen, dass nichts so sehr das Gegenteil beweist wie der Krieg.

Dazu Hegel: „Es gibt eine sehr schiefe Berechnung, wenn bei der Forderung dieser Aufopferung der Staat nur als bürgerliche Gesellschaft und als sein Endzweck nur die Sicherung des Lebens und Eigentums der Individuen betrachtet wird; denn diese Sicherheit wird nicht durch die Aufopferung dessen erreicht, was gesichert werden soll; im Gegenteil“. (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1820)

Steht die Bevölkerung also hinter der Kriegsplanung und -vorbereitung durch ihre politische Herrschaft, dann ist das Ja zur Selbstbehauptung von Demokratie und Vaterland nach außen abgeliefert. Dann sind Ausnahmen von diesem Konsens eigentlich nicht mehr zulässig, dann hat es keinen Widerspruch, keinen Protest mehr gegen den kommenden Krieg zu geben. Dann steht für einen Bundespräsidenten z.B. fest: „Für mich steht fest: Wir leben in einer Zeit der Bewährung. Es kommen raue, härtere Jahre auf uns zu… Wir müssen uns jetzt behaupten – mit Realismus und Ehrgeiz. Das ist die Aufgabe unserer Zeit. Selbstbehauptung ist die Aufgabe unserer Zeit! … Aber behaupten werden wir uns nur als starke Demokratie. Und genau deshalb brauchen wir jetzt Bürgerinnen und Bürger, die dem Gemeinwesen nicht gleichgültig gegenüberstehen. Heute ist es an uns, uns in schwieriger Zeit zu behaupten“. (Steinmeier-Rede)

Dann „stimmen die Menschen, mit ihrem Herrscher völlig überein, so daß sie ihm ohne Rücksicht auf ihr Leben folgen und sich durch keine Gefahr erschrecken lassen“ (SunTzu). Der Preis dafür ist auch kein Geheimnis, wie die Kriegsvorbereiter ohne Umschweife in ihren „Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung“ darlegen und damit zugleich bekannt geben, dass von Sicherheit und Schutz der Bevölkerung keine Rede sein kann. Die „Gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge“ im kommenden Krieg sieht dann so aus:

„Wegen der Möglichkeit des gleichzeitigen Eintritts von Schäden an einer Vielzahl von Orten können die Bürger nicht damit rechnen, dass überall sofort staatlich organisierte Hilfe geleistet werden kann. Sie müssen deshalb darauf vorbereitet sein, sich zunächst selbst zu helfen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Fertigkeiten auch Nachbarschaftshilfe zu leisten. … Diese Pläne berücksichtigen sowohl eine Überlastung der Behandlungskapazitäten (MANV), Bedarfe für die Behandlung der Folgen möglicher CBRN-Gefahren, als auch Einschränkungen der Funktionalität des Krankenhauses. … Mit der zivilen Notfallreserve des Bundes soll die Bevölkerung insbesondere in Ballungsgebieten bei unzureichender Verpflegungslage über einen gewissen Zeitraum mit einer warmen Mahlzeit am Tag versorgt werden können … Die Bürger sollen einen individuell zusammengestellten privaten Lebensmittelvorrat für zehn Tage vorhalten.“ (RRGV)

8. Der Dank des Vaterlands

Der Massenanfall von Verwundeten (MANV) ist von den demokratischen Kriegsvorbereitern, „von denen da oben“ (Gauck), ebenso antizipiert wie die Möglichkeit einer chemischen, biologischen, radioaktiv-nuklearen (CBRN-)Auseinandersetzung mit Russland. Und der Dank von Demokratie und Vaterland ist dann den Hunderttausenden oder Millionen Dahingerafften in jedem Fall gewiss. Der Dank – der nach einem Krieg gegen Russland oder später gegen China wohl an Millionen „Kriegsbeschädigte“ geht – besteht einfach darin, dem Grabstein eine neue Inschrift mit aktuellem Datum hinzuzufügen: „Den Kriegsbeschädigten aus Dankbarkeit: 2029 – …“. Die entsprechenden Kriegerdenkmäler mit den Namen der Gefallenen aus Weltkrieg I oder II und mit trostreichen Worten verziert finden sich ja fast in jeder Gemeinde.

Ist der Ernst der Stunde, der so genannte „äußere Notstand“ (RRGV), durch die heimischen Kriegsplaner herbeigeführt, dann gilt ohnehin nur noch das Prinzip von Befehl und Gehorsam – egal, wie die Staatsform aussieht. Ja, der Tod fürs Vaterland! Bei dessen Idealisierung können sich Faschisten und Demokraten die Hand reichen. Und auch der Faschismus lässt seinen „Kriegsbeschädigten“ posthum alle Ehre zukommen, was seine Nachfolger dann fortsetzen. Hier ein aktuelles italienisches Beispiel, zu dem sich leicht die deutschen Gegenstücke finden ließen: „Den Soldaten des Landes, des Meeres und des Himmels, die im Afrikakrieg gefallen sind und somit das wieder aufgestandene Vaterland in seiner weltweiten Mission vorangebracht haben.“ („Ai Soldati della Terra della Mare e del Cielo che caddero nelle Guerre d'Africa avazando i Termini della Patria risorta alla Missione mondiale“, Standort der Tafel: Via S. Lucia, Neapel.)

Das ist der Lohn, den der Wille zum Krieg für die Bevölkerung bereithält und den sie für ihre Hingabe an die demokratische Herrschaft einstreichen kann. Das sind die Kosten der Freiheit, die zu Zeiten des Vietnamkriegs Crosby, Stills, Nash & Young besangen: „Find the cost of freedom, Buried in the ground, Mother Earth will swallow you, Lay your body down“. Wobei nur fraglich ist, ob nach dem zu erwartenden nuklearen Holocaust Mutter Erde die Toten noch schlucken oder nicht lieber ausspucken wird…

Eine erste Version dieses Textes erschien im Untergrund-Blättle (https://www.untergrund-blättle.ch/) am 27.6., 2.7. und 10.7.2024. Dort finden sich auch ausführliche Quellen- und Literaturnachweise.


Zurück zum Original?

Ad fontes – Zurück zu den Quellen! So hieß es ganz traditionsbewusst, als vor Jahren eine Marx-Renaissance von sich reden machte. Hat diese Rückkehr zum Original etwas bewirkt? Dazu eine Information von Johannes Schillo.

IVA hat jüngst an die große Finanzkrise 2007/08 mit ihren Folgen – nicht nur für „Realwirtschaft“ und staatliche Krisenbewältigung, sondern auch – für den Überbau des kapitalistischen Geschäftslebens erinnert: Bei Wissenschaftlern, Medienleuten oder im Bildungsbetrieb kam wieder ein begrenztes Interesse an der Marxschen Kapitalismuskritik auf (vgl. Schillo 2024). Die galt ja sonst als obsolet oder abwegig, als ein Thema, mit dem sich bestenfalls die Theorie- oder Sozialgeschichte zu befassen habe. Die unübersehbare Krisenanfälligkeit des Systems sorgte da für einen Moment der Nachdenklichkeit.

Damals trat auch die Initiative IVA mit der Losung „Zurück zum Original“ an und stellte ihre Programmschrift unter diesen Titel (vgl. Schillo 2015). Die vom Feuilleton befeuerte „Renaissance“ fand dann im Jahr 2018, dem 200. Geburtstag von Marx, ihren passenden Schlusspunkt. Von der FAZ, der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Karl-Marx-Haus in Trier, der Bundeszentrale für politische Bildung oder dem damaligen Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz (der zufälliger Weise auch Marx hieß) wurden dem alten Unruhestifter ein paar Kränze hinterher geschmissen – und damit hatte es sich. Im Prinzip jedenfalls.

Ganz ohne Wirkung blieb die Sache jedoch nicht. So wurde der Welt der Wissenschaft die Gelegenheit geboten, sich beim umfangreichen Opus des alten Theoretikers zu bedienen, um innovative Ansätze zu erproben oder akademische Karrieren zu verfertigen. Und es kam zu einer neuen Aufmerksamkeit, die sich auf die Kritik der politischen Ökonomie richtete. Der genannte IVA-Beitrag hat ausgeführt, wie daraus eine Diskussion hervorgegangen ist, die die Aktualität der Marxschen Theorie gerade für die aktuelle „multiple“ Krisenlage betont. Es gibt dabei allerdings kein eindeutiges Resultat. Es handelt sich mehr um einen Auftakt, ein Programm für weitere Bemühungen, das auch gewisse Abwege, so die Fortschreibung der Kapitalismuskritik „mit Marx gegen Marx“ oder die Abwendung von der „reinen Lehre“, einschließt.

Kritische politische Bildung

In den Sozialwissenschaften und den entsprechenden Bildungsanstrengungen, die sich an den Nachwuchs im schulischen oder außerschulischen Kontext richten, war Marx natürlich nie ganz out. Nach der Ära des Antikommunismus (und dessen teilweiser Infragestellung durch die 68er), die den totalitären Charakter des Marxismus herausstellte (bzw. durch demokratische Elemente aufzulockern versuchte), blieb er als Gegenbild in spezieller Funktion erhalten – als Erinnerung daran, dass es einmal einen Gegenspieler gegeben hatte. Politisch-ökonomische Bildung hatte somit, wie ein einschlägiges Handbuch vor der jüngsten Krisenentwicklung feststellte, einen klar umrissenen Gegenstand: Die Frage nach der grundlegenden Ordnung des ökonomischen Lebens war „zentriert auf die deutsche Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft und die mit ihr verbundenen Entscheidungsprobleme“ (Althammer u.a. 2007, 8).

Der Politikdidaktiker Joachim Detjen vertrat explizit diese Alternativlosigkeit des Bildungsauftrags. Dabei räumte er ein, dass eigentlich die Zentralverwaltungs- oder Planwirtschaft als „grundsätzliche Alternative zur Marktwirtschaft … aus prinzipiellen didaktischen Erwägungen im Unterricht thematisiert werden (müsste)“ (ebd., 86). Doch mit der Wende im Osten habe sich diese Aufgabe erledigt. „Nach dem Untergang des sowjetsozialistischen Staatensystems konkurrieren nicht mehr Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme miteinander, sondern Wirtschaftsstandorte, die allesamt marktwirtschaftlich verfasst sind“; und diese divergierten nur noch „hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und der Kosten für die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital“ (ebd., 87). Letztere seien die einzigen Alternativen, mit denen sich politökonomische Bildung zu befassen habe.

Dies ist mittlerweile passé. Schon drei Jahre später erschien das Handbuch „Kritische politische Bildung“, in dem der Politikwissenschaftler Ulrich Brand festhielt, dass sich die 2007 begonnene Finanzmarktkrise „zu einer umfassenden gesellschaftlichen Krise verallgemeinert“ habe, so dass eine „Staats- und Gesellschaftstheorie im Anschluss an Karl Marx“ gefordert sei (Lösch/Thimmel 2010, 145ff). Allerdings fand sich in dem Handbuch, wie Holger Oppenhäuser jüngst vermerkt hat (Hawel/Kalmring 2024, 55), das Wort Kapitalismuskritik „in keiner Überschrift, wenngleich Themen wie Globalisierung, Rückkehr der sozialen Frage, Arbeit und das Verhältnis von ökonomischer und politischer Bildung offenbar in engem Bezug dazu stehen.“ Und er fügt hinzu: „Auch das wird sich in der gerade entstehenden Neuauflage des Handbuchs ändern.“ Das hat sich in der Tat geändert. Die Neuausgabe des Handbuchs wurde 2024 vorgelegt und Oppenhäuser steuerte dazu einen Beitrag über „Kapitalismuskritische Bildungsarbeit“ (Chehata 2024, 502ff) bei.

Eine Welt im Krisenmodus

2024 gab Margit Rodrian-Pfennig zusammen mit Ko-Autoren das Buch „Dirty Capitalism“ heraus, das das Wiederaufgreifen der Marx’schen Theorie zum Programm macht. Im Kern soll es darum gehen, die Kritische Theorie von Adorno und Horkheimer zu aktualisieren und den kategorischen Imperativ des jungen Marx, alle gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse umzuwerfen, in der Hinsicht zu erweitern, dass die „Vielfachkrisen, mit denen die Weltgesellschaft heute konfrontiert ist“ (Rodrian-Pfennig u.a. 2024, 17), adäquat in den Blick kommen. Gegen Konzepte eines regulierenden Staatsinterventionismus halten die beiden Hochschullehrerinnen Sonja Buckel und Ruth Sonderegger im Eröffnungsbeitrag – ganz im Sinne der Marx‘schen Kritik – an der grundsätzlichen Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise fest und schließen sich den Warnungen Adornos vor „der kapitalistischen Katastrophe“ (ebd., 20) an.

Rodrian-Pfennig bezieht das – wie viele andere Autoren und Autorinnen des Sammelbandes – auf die Klimakatastrophe, die nicht als düstere Zukunftsprognose, sondern als real stattfindende „große Transformation“ (ebd., 33) mit gravierenden Verschärfungen sozialer und politischer Problemlagen zu nehmen sei. Dabei kommt die Autorin auch auf die seit dem Ukraine-Krieg in Deutschland verkündete „Zeitenwende“ zu sprechen, die die weltweiten Verheerungen durch einen Kurs von Militarisierung und Hochrüstung weiter zuspitzen werde. Die theoretische Grundlage sieht Rodrian-Pfennig in der Kritik der politischen Ökonomie von Marx, die um Ökologie zu erweitern sei.

Die Debatte über die Aufgaben einer kritischen politischen Bildung wird natürlich auch im Umkreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung geführt. Daraus ist die Publikation „(Ohn-)Macht überwinden!“ von Marcus Hawel und Stefan Kalmring hervorgegangen. Der entscheidende Punkt ist hier ebenfalls das Wiederanknüpfen an die Kritik der politischen Ökonomie, wie sie Marx mit dem „Kapital“ vorgelegt hat. Hier wird ebenso die Tradition der Kritischen Theorie einbezogen, doch sei bei letzterer, wie Hawel schreibt, mittlerweile eine „Anpassung an den Universitätsbetrieb“ zu verzeichnen, in dem die Verbindung zur Marx‘schen Kritik „weitgehend entsorgt“ sei (Hawel/Kalmring 2024, 17). Oppenhäuser bestätigt das in seinem Beitrag zu dem Band, zeichnet aber auch nach, wie sich seit der Finanzkrise 2008 – nicht nur in der Bildungsarbeit – ein neues Interesse an der Marx‘schen Theorie entwickelt hat.

Die anderen Texte unterstützen größtenteils ein solches Programm. Bei den verschiedenen Problemfeldern, mit denen sich eine kritische Bildung zu befassen habe, müsste die ökologische Katastrophe in den Blick genommen werden, und zwar als zentrales Problem, an dem sich die strukturellen Zusammenhänge der neuen multiplen Krisenlage aufzeigen ließen. Julian Niederhauser widmet dem einen Beitrag und thematisiert die diversen „klimaskeptischen“ Trends als Herausforderung für die Bildungsarbeit. Entlang dieser Trends der Problemverdrängung müsse „die politische Auseinandersetzung um den derzeitigen fossilen Kapitalismus im globalen Norden“ (ebd., 119) geführt werden.

Auch die Neuausgabe des „Handbuch kritische politische Bildung“ wendet sich gegen die Tendenz, in der Gesellschaftsdiagnose grundlegende Widersprüche zu verdrängen. Der Konsens des sonst durchaus heterogenen Autorenkreises besteht darin, die Herrschaftsverhältnisse, die „im derzeitigen akademischen Diskurs – auch der politischen Bildung – oftmals unsichtbar bleiben“ (Chehata 2024, 14), zum Ansatzpunkt zu machen. Insofern ist das Attribut „kritisch“ nicht einfach ein schmückendes Beiwort, das noch jeder wissenschaftlich oder pädagogisch Tätige für sich in Anspruch nimmt. Es macht vielmehr das spezielle Profil dieses Kreises deutlich, der zudem im Rahmen der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) kooperiert und dort über ein eigenes Forum (https://akg-online.org/arbeitskreise/fkpb-forum-kritische-politische-bildung.html) verfügt. Die AkG will die Diskussion gesellschaftskritischer Theorieansätze befördern, „deren Reproduktion und Weiterentwicklung in Zeiten ihrer zunehmenden Marginalisierung an den Hochschulen gesichert werden soll“ (https://akg-online.org/). Aus diesem Kreis ist auch die genannte Veröffentlichung von Rodrian-Pfennig hervorgegangen.

„Kapitalismus am Limit“

Konsens des neuen Handbuchs ist es, wie das Herausgeberteam schreibt, angesichts „gesellschaftlicher Verwerfungen des globalen Kapitalismus“ – dessen dauerhafter Krisenmodus im Blick auf die ökologischen Verheerungen oder die zunehmenden Weltordnungskonflikte herausgestellt wird – den „Bezug auf kritische Gesellschafts-, Macht- und Herrschaftsanalysen“ zur unabdingbaren Voraussetzung zu machen. „Kritische Kapitalismusanalysen dienen in dieser Betrachtungsweise dazu, den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu verstehen, was grundsätzlich das Ziel und Bemühen kritischer politischer Bildung ist“ (Chehata 2024, 14). Hier deutet sich auch eine gewisse Akzentverschiebung an, ging es der Erstausgabe doch vorwiegend um eine Frontstellung gegen den Neoliberalismus (vgl. ebd., 13), also um Einwände gegen einen verfehlten, nämlich marktradikalen Steuerungsmodus des Kapitalismus.

Ulrich Brand und Anna Preiser machen das etwa in dem einschlägigen Handbuch-Artikel über die „Imperiale Lebensweise“ deutlich. Ihnen geht es nicht um Regulierungs- oder Modernisierungsdefizite, die dem einen oder anderen Politikkonzept anzulasten (und etwa durch sozial gerechtere Varianten zu ersetzen) wären. Vielmehr heißt es kategorisch: „Die imperiale Re-/Produktions- und Lebensweise ist kapitalistische Expansions- und Herrschaftsdynamik“, wobei als Kernproblem der „kapitalistische Akkumulationsimperativ“ (ebd., 125) hervorgehoben wird. Brand hat diese Position jüngst noch einmal zusammen mit dem Sozialwissenschaftler Markus Wissen in dem Aufsatz „Kapitalismus am Limit“ dargelegt. Hier wird ebenfalls vor der Illusion gewarnt, „dass die ökologische Krise vor allem durch Umverteilung von Einkommen und Vermögen bearbeitet werden könnte – und nicht durch strukturelle Veränderungen der Produktions- und Lebensweise.“ (Brand/Wissen 2024, 12)

Dabei zielt die Rede von der ökologischen Krise nicht allein auf den Umgang mit den Umweltbedingungen, sondern bringt zur Sprache, dass sich hier verschiedene Krisenprozesse überlagern. Dadurch würden alle globalen Ressourcen verschlissen: „Die kapitalistische Ökonomie ist drauf und dran, ihre eigene Substanz – die außer-ökonomischen Bedingungen , die sie selbst nicht herstellen kann, auf die sie aber angewiesen ist – zu verschlingen.“ (Ebd., 13) Das zentrale Problem ist auch hier der Akkumulationsprozess des Kapitals, der das Wirtschaftswachstum – „bei Strafe des Untergangs“, wie Marx formulierte – zur unabweisbaren Notwendigkeit unternehmerischen Handelns macht.

Alles in allem lässt sich festhalten, dass die heutige Krisenlage wieder zu einem Rückgriff auf verpönte und verdrängte Diagnosen nötigt, die – irgendwie – zu dem Urheber Karl Marx hinführen. Der hatte ja mit seiner Kritik der kapitalistischen Produktionsweise zum ersten Mal eine stringente Erklärung des singulären Wachstumspotenzials dieser Wirtschaftsordnung wie ihrer Kosten, der Untergrabung von Lebenskraft und Lebensgrundlagen, vorgelegt. Dabei ist allerdings das „irgendwie“ der Wiederaneignung zu unterstreichen. Zu dem, was die Erweiterungen und Neuerungen, das Hinausgehen über den ökonomischen Marx oder das Zurückgehen zu seinen philosophischen Anfängen betrifft, wäre im Einzelnen viel zu sagen. IVA wird bei Gelegenheit darauf zurückkommen.

Nachweise

Jörg Althammer/Uwe Andersen/Joachim Detjen/Klaus-Peter Kruber (Hg.), Handbuch ökonomisch-politische Bildung. Schwalbach/Ts. (Wochenschau) 2007.

Ulrich Brand/Markus Wissen, Kapitalismus am Limit – An den Grenzen einer Produktionsweise. In: Außerschulische Bildung, Nr. 2, 2024.

Yasmine Chehata/Andreas Eis/Bettina Lösch/Stefan Schäfer/Sophie Schmitt/Andreas Thimmel/Jana Trumann/Alexander Wohnig (Hg.), Handbuch kritische politische Bildung. Frankfurt/M. (Wochenschau) 2024.

Marcus Hawel/Stefan Kalmring (Hg.), (Ohn-)Macht überwinden! Politische Bildung in einer zerrissenen Gesellschaft. Berlin (Verbrecher-Vlg.) 2024.

Bettina Lösch/Andreas Thimmel (Hg.), Kritische politische Bildung. Ein Handbuch. Schwalbach/Ts. (Wochenschau) 2010.

Margit Rodrian-Pfennig/Holger Oppenhäuser/Georg Gläser/Udo Dannemann (Hg.), Dirty Capitalism – Politische Ökonomie (in) der politischen Bildung. Hg. im Auftrag der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG). Münster (Westfälisches Dampfboot) 2024. Siehe die Rezension im socialnet: https://www.socialnet.de/rezensionen/32240.php.

Johannes Schillo (Hg.), Zurück zum Original – Zur Aktualität der Marxschen Theorie. Hamburg (VSA) 2015.

Johannes Schillo, Der Kapitalismus wird digital, dirty, racial … und sonst noch was? IVA, Texte24, Mai 2024.


Juni

Die EU – ein Friedensprojekt?

Die EU erlebt nicht nur einen beachtlichen Militarisierungsschub, sondern auch einen Rechtsruck. Dazu aktuelle Hinweise der IVA-Redaktion.

Im Europawahlkampf wurde ausgiebigst Stimmung gemacht, für unsere gemeinsame europäische Sache zur Wahl zu gehen. Appelliert wurde vor allem an die Jungwähler – die dann durch ihre Stimmabgabe enttäuschten und somit eine neue Problemfacette ins deutsche Krisentableau einbrachten.

Was aber dieses Projekt Europa eigentlich ist, darüber erhielt man im Wahlkampf eher keine Aufklärung. Mit dieser Feststellung begann Renate Dillmann ihre (ironisch so betitelte) „Liebeserklärung“ an die Adresse der EU. Der bei 99:1 kurz vor dem Wahltag ausgestrahlte Videopodcast griff dagegen die als Selbstverständlichkeit verbreitete Behauptung an, die europäische Idee sei per se eine gute Sache, da sie den brandgefährlichen Nationalismus, wie man ihn aus dem vorigen Jahrhundert der Weltkriege kennt, überwunden habe. Schließlich sei dem besagten Zusammenschluss ja auch schon vor Jahren der Friedensnobelpreis verliehen worden.

Eine globale Ordnungsmacht

Ist die EU also ein Friedensprojekt? Mittlerweile hört man von ihr klar gegensätzliche Töne. Von Kriegsertüchtigung und beschleunigter Aufrüstung, von einer Wende im Außenverhältnis, von einer neuen, „robusten“ Zuständigkeit in globalen Konfliktfällen, ist die Rede. Das sollte man aber nicht als Versagen gegenüber dem ursprünglichen Auftrag der Aussöhnung und Völkerverständigung verstehen, sondern als die konsequente Fortsetzung eines „imperialistischen Konkurrenzprojekts im Schafspelz“. So lautete das Fazit der Analyse von Renate Dillmann und Johannes Schillo, die 2023 in der Zeitschrift Konkret (Nr. 11 und 12/23) imperialismustheoretische Überlegungen anstellten und sie unter dem Titel „Make Europe great again“ abschlossen.

Bei IVA war diese Bezugnahme auf den Imperialismus – der ja auch von der bundesdeutschen Politik wiederentdeckt wurde, nämlich im Osten, in Putins Reich – unter Texte23 („Die EU – ein Imperialismus im Schafspelz“) bereits im Dezember 2023 Thema. Dillmann hat in ihrem Videopodcast diese Kritik jetzt nochmals in kompakter Form vorgetragen, in einem Beitrag, der rasch auf den Punkt kommt, während einige der Sendungen bei 99:1 doch arg auszuufern drohen und die Aufnahmefähigkeit des Publikums strapazieren.

Norbert Wohlfahrt hat in der //Jungen Welt// vom 12. Juni 2024 ebenfalls einen Beitrag zur EU veröffentlicht: „Endlich Militärmacht werden – ‚Friedensprojekt‘ EU. Ein Staatenbündnis macht sich kriegstüchtig“. Er macht vor allem die Selbstdarstellung des europapolitischen Aufbruchs durch Politik und Politikberatung zum Thema. Der erste Teil der Analyse legt Wert darauf, dass der Aufbruch in militärpolitischer Hinsicht keine Reaktion aus dem Jahre 2022 ist, also kein Sachzwang in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine, der den friedlichen Europäern keine andere Wahl ließ. Der Aufbruch sei bereits lange vorher propagiert und in die Wege geleitet worden. Wohlfahrt hält zu den Friedensschalmeien des EU-Projekts fest:

„Der ‚Friedensmacht Europa‘, die schon längst dazu übergegangen war, ihre ökonomisch begründete Gemeinschaft als geostrategisches Projekt zu entwickeln, wurde ein Preis verliehen, der für die kapitalistischen Demokratien, die da belobigt wurden, zugleich eine Herausforderung darstellte. Denn ihre Fähigkeit, als imperialistische Ordnungsmacht zu agieren, war mit dem Mangel behaftet, ganz ohne eine durch eigene Souveränität verfügte und einsatzfähige Waffengewalt die ökonomische und politische Stabilisierung ihrer Nachbarländer voranzutreiben.“

Das ändert sich nun mit dem Ukrainekrieg. Natürlich definiert sich die EU weiterhin als Friedensmacht. Je mehr sie aber als Kriegsbündnis Gestalt annimmt, das betont Wohlfahrt in der jw, „desto stärker formuliert sie den Anspruch, die Gewalt dieses Bündnisses für die Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber anderen Ländern und Souveränen in Zukunft auch militärisch geltend zu machen“. Dieser Anspruch bringt aber ein doppeltes Problem mit sich. Die EU stellt sich damit vom Prinzip her nicht nur dem Patronat der USA entgegen, von dem sie gleichzeitig (immer noch) abhängt, „sondern drängt auch den beteiligten Nationen die Frage auf, was denn ihre europäischen Interessen sind, die da militärisch zur Geltung gebracht werden sollen. Die militärische Aufrüstung der EU wird deshalb von keinem Mitgliedstaat als Ersatz für die Kriegstüchtigkeit der eigenen Nation angesehen, im Gegenteil.“

Der europäische Rechtsruck

Angesichts dieser offenen nationalen Fragen ist es kein Wunder, dass im Rechtspopulismus europaweit Positionen Auftrieb erhalten, die aus nationalistischem Geist das Bündnis auf seinen Ertrag befragen. Aktualisiert wird dabei, was an Konfliktpotenzial im Bündnis von vornherein angelegt war. Dazu resümiert der //Gegenstandpunkt//: „Es ist ein Zusammenschluss von Nationen zwecks Behauptung in der weltweiten Konkurrenz gegenüber feindlichen Mächten – ökonomisch wie strategisch. Nur als dieses Kollektiv sehen sie sich dazu in der Lage, die Vorherrschaft auf dem eigenen Kontinent gegen alle ökonomischen, politischen und militärischen Ansprüche und Einsprüche wirksam zu verteidigen und ihre Rolle als weltweit mitbestimmende Ordnungsmacht auszubauen.“

Der Rechtsruck, der in der EU am 9. Juni offiziell bestätigt wurde, könnte nun dem Staatenbündnis beim Auftreten als globale Ordnungsmacht Probleme bereiten. In dieser Hinsicht wurden ja vor allem Sorgen artikuliert. So in der FAZ: „Der Rechtsruck droht den Fokus der Staaten nach innen zu richten, wo er doch nach außen gehen müsste. Das Ringen der Mitte um die ‚richtige Antwort‘ auf den Erfolg der Rechtspopulisten wird viel Sand in den europäischen Motor streuen.“ (www.faz.net, 14.6.2024) Doch zugleich gibt es vorausschauende Überlegungen, die neue Chancen sehen und die beim rechtsradikalen Aufschwung zwischen konstruktiven und extremistischen Kräften unterscheiden. Mit einer gestandenen Neofaschistin wie Georgia Meloni klappt die Zusammenarbeit ja bestens, Ursula von der Leyen tauscht mit ihr schon Küsschen aus. Und vielleicht gehört ja Marine Le Pen demnächst auch zum Kreis der gemäßigten Rechtskräfte diesseits der legendären „Brandmauer“.

Das neue Streitpotenzial im europäischen Innenverhältnis wird Folgen haben für die Wirtschaftspolitik und das gemeinsame Auftreten gegenüber den globalen Rivalen. Dem FAZ-Kommentator fielen hier als Erstes China und die USA ein. Doch er fährt fort: „Das muss nicht nur negativ sein. Nach dem Regulierungsmarathon der ‚Kommission von der Leyen I‘ täte der EU etwa eine Regulierungspause und Bürokratieabbau in vielen Politikfeldern gut. Das gilt nicht nur für den Green Deal. Die Unternehmen könnten sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren, gute Produkte zu entwickeln. Wenig bedauerlich wäre auch, wenn die Debatte über neue EU-Schulden ausgebremst wird.“

So abwegig und antieuropäisch ist der Aufbruch des Rechtspopulismus also nicht. Vielleicht kann man ja die „Brandmauer“ etwas verschieben – wie zur Zeit auch in Deutschland hier und da überlegt wird – und die bislang als extremistisch (ganz oder in Teilen) ausgegrenzten Parteien unter bestimmten Bedingungen mitwirken lassen. Und zwar als Verstärker beim Anmelden nationaler Ansprüche, denn in dieser Hinsicht passen sie bestens ins Konzert der europäischen Mächte.


Noch was zur Europawahl

Alle Wahlen wieder … kommt ein „Klimastreik“. Unter diesem Titel hat Rudolf Netzsch vor der Europawahl ein Flugblatt verteilt, das sich vor allem, aber nicht nur an die Fridays for Future wendet. Hier der Wortlaut des Statements.

Ja, es gibt noch Erfolgsmeldungen. Sicher hat auch manchen von euch eine Mail der Fridays for Future erreicht, in der Jan-Marius aus Straßburg schreibt:

„2019 haben wir es zur letzten Wahl zum EU-Parlament geschafft, ein großes Momentum aufzubauen, welches zu vielen Erfolgen in der europäischen Klimapolitik geführt hat.“

Das baut einen doch richtig auf! Nur schade, dass Jan-Marius darüber ganz vergessen hat, zu sagen, worin denn diese Erfolge bestanden. Lediglich Stichpunkte nennt er: Green Deal, Emissions­handel, Agrarsubventionen. Inwiefern dabei von Erfolg gesprochen werden kann, erfährt der Leser nicht; es bleibt also ganz seiner persönlichen (Wunsch-)Perspektive überlassen. Nehmen wir den Green Deal: Besteht der aus mehr als Absichtserklärungen? Aus mehr als schönen Worten, die in Vergessenheit geraten, sobald „harte“ politische Umstände ihnen entgegenstehen? Eben so, wie das „Klimagesetz“ der Ampel-Koalition ausgehöhlt wurde, sobald es mit den Interessen der Auto-Industrie kollidierte?

O.k., die besagte Mail ist nicht der einzige Text, mit dem zur heutigen Demo aufgerufen wurde. Aber auch in den anderen finden sich nur Worthülsen wie

„Die EU ist wichtig, die EU-Wahl am 09. Juni betrifft uns und wir wollen die Interessen der jungen Generation auch im EU-Parlament vertreten wissen.“

Wieso dieser Fokus auf Wahlen, und warum will Fridays for Future mit den politischen Parteien darum wetteifern, wer die inhaltsloseste Werbung zu bieten hat? Nun ja, die „Strategie“ von Fridays for Future besteht darin, an die Politiker zu appellieren – und in den Wahlen wird das politische Per­sonal bestimmt. Die Überlegung scheint also ganz einfach: Es müssen solche Personen in die politi­schen Ämter gewählt werden, bei denen die Appelle Gehör finden. Jedoch: Offenbar funktioniert das nicht. Zwar hat es mittlerweile langjährige Tradition, dass bei allen anstehenden Wahlen diese zu „Klimawahlen“ stilisiert werden, aber bewirkt hat das weiter nichts. Nicht einmal, wenn – wie bei der letzten Bundestagswahl – Parteien in die Regierung kommen, die sich als Klimaschützer anprei­sen, hat sich in der Politik Wesentliches in Richtung Klimaschutz verbessert. Stattdessen ließ das einen grünen Wirtschafts- und Klimaschutzminister zum Fracking-Gas-Fan mutieren.

Kein Interesse an den Gründen?!

Ist es also nicht an der Zeit, nach den Gründen für diese enttäuschenden Erfahrungen zu suchen? Dazu ein paar Hinweise:

  • Ist in unserer Gesellschaft alles nach demokratischen Verfahrensweisen geregelt? Nein. Jeder weiß, dass die meisten Menschen wohl den größten Teil ihrer wachen Zeit in der Arbeit zubringen und dass das ein Bereich ist, in dem es nicht demokratisch zugeht, sondern letztlich getan wird, was die Eigentümer der Firmen bestimmen.
  • Demokratisch geht es also nur im Staat zu. „Immerhin!“ wird vielleicht mancher sagen: So weit die Macht des Staats reicht, kann man sie durch Wahlen beeinflussen. Aber wie weit reicht die Macht des Staats? Oder anders gefragt: Wie verhalten sich die Macht der Wirtschaft und die des Staats zueinander? Geld ist Macht, und in jedem Fall ist in der Wirtschaft mehr davon konzentriert als im Staat. Aber das ist noch nicht alles: Der Staat ist materiell von seiner Wirtschaft abhängig. Sie ist seine Geldquelle, und von der Stärke seiner Wirtschaft hängt auch ab, wie viel er im inter­nationalen „Konzert“ der Mächte zu vermelden hat. Seine Wirtschaft zu fördern, hat also für ihn höchste Priorität, und das heißt umgekehrt, dass er ihr möglichst wenig Auflagen zumuten will, auch wenn es um so dringliche Angelegenheit wie das Klima geht.
  • Da wundert es nicht, dass „Wachstum“ das A und O jeder Wirtschaftspolitik ist und daher im Zweifelsfall vor allen Umweltbelangen rangiert. Und wir erleben es ja derzeit täglich: Auch grüne Minister sind spätestens dann zu allen Kompromissen bereit, wenn die Konjunktur „einzu­brechen“ droht. Und das, wo doch klar sein müsste, dass Wirtschafts­wachstum und Klimaschutz zueinander im Gegensatz stehen.
  • Wohlgemerkt: Das ergibt sich aus der Stellung und Funktion des Staats in der bestehenden Ge­sell­schaftsordnung. Die Politiker handeln von sich aus entsprechend der so bestimmten „Staats­rä­son“. Daher wäre es illusorisch, die Schuld nur bei Lobbyisten und Bestechlichkeit zu sehen und sich von der Wahl „sauberer“ Kandidaten Abhilfe zu erhoffen. Vielmehr zeigt sich immer wieder, dass Parteipolitiker, die mit hochfliegenden „idealistischen“ Grundsätzen angetreten sind, um so „realistischer“ werden, je näher sie der Regierungsbe­teili­gung kommen.
  • Und noch was: Es wird gesagt, es gehe jetzt darum, einen Erfolg der AfD zu verhindern. Ange­sichts dessen, was derzeit die Ampel-Regierung betreibt - nämlich die unnachsichtige Strafverfol­gung der Letzten Generation, die gewaltsame Auflösung friedlicher Protestcamps, Einreise- und Redeverbote für über jeden Totalitarismus-Verdacht erhabene EU-Bürger oder die vorschnelle Diffamierung unlieb­samer Wortmeldungen als „Antisemitismus“ – muss man doch fragen: Wieso soll man gegen erst an die Macht strebende und nicht gegen die bereits an der Macht befindlichen autoritären Parteien pro­testieren? Lasst euch nicht auf die billige Tour ein, bestehende Missstände durch Verweis auf mög­liche noch schlimmere zu verharmlosen! Vielleicht sollte man auch fragen: Wenn demokrati­schen Parteien der Übergang zu faschistischen Methoden so leicht zu fallen scheint – deutet das nicht darauf hin, dass auch sie Umstände kennen, unter denen sie bedenkenlos den Schwenk zum offenen Faschismus zu vollführen bereit sind?

Fazit: Die für die Klimapolitik wesentlichen Fragen sind bereits entschieden, bevor die Bürger an die Wahlurnen gerufen werden. In den Wahlen geht es nur um Varianten der prinzipiell schon fest­liegenden Staatsziele und darum, welches politische Personal sie dann ausführen darf. Es ist also eine Illusion, dass durch Wahlen die Welt auf den Weg der Klimagerechtigkeit geführt werden könn­te. Darüber sollte sich jeder klar werden, denn aus Illusionen folgen stets falsche Handlungen.

Zum Schluss noch ein Tipp: Wer sich gründlich von allen Illusionen über die Klimapolitik frei machen will, der findet Gedanken und Argumente in dem Buch von Rudolf Netzsch „Nicht nur das Klima spielt verrückt“ (München 2023, ISBN 978-3-8316-2420-1). Bei „99-zu-Eins“ gibt es dazu ein Interview mit dem Autor als Video-Podcast: https://www.youtube.com/watch?v=iwKbgaRm-uo.


Mai

Der Kapitalismus wird digital, dirty, racial … und sonst noch was?

Über Relevanz und Aktualität der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie wird im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus gelegentlich noch diskutiert. Dazu ein Kommentar von Johannes Schillo.

Nach der großen Finanzkrise 2007/08 mit ihren Folgen für „Realwirtschaft“, staatliche Krisenbewältigung und Haushaltspolitik (man denke nur an die Staatsschuldenkrise Griechenlands und die einschlägigen Kontroversen in der EU) kam hierzulande, aber auch weltweit, etwa bei Wissenschaftlern, Medienleuten oder zivilgesellschaftlichen Aktivisten, wieder ein begrenztes Interesse an der Marxschen Kapitalismuskritik auf. Die galt sonst meist als obsolet und erledigt, bestenfalls als ein Thema, mit dem sich die Theorie- oder Sozialgeschichte zu befassen hat. Die kleine „Marx-Renaissance“ dauerte etwa ein Jahrzehnt. In Deutschland fand sie mit dem Jahr 2018 ihren offiziellen Schlusspunkt, als der 200. Geburtstag von Marx zum Abfeiern anstand. Von der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Eigentümerin des Karl-Marx-Hauses in Trier, oder der Bundeszentrale für politische Bildung bis hin zum Trierer Dom-Museum oder Tourismusbüro gab es unterschiedlichste Aktivitäten, die auch einen Widerhall im Medien-, Wissenschafts- und nicht zuletzt im Bildungsbetrieb fanden.

So kam es zu einigen Veranstaltungen in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, an denen auch Autoren der IVA-Publikation „Zurück zum Original – Zur Aktualität der Marxschen Theorie“ (Schillo 2015) mitwirkten. Die Publikation war gewissermaßen Startschuss und Programmschrift der Initiative IVA, die 2014 entstand und 2015 mit ihrer Website antrat. Zu den ersten Texten auf dieser Seite gehörte 2015 eine kleine Bilanz zur Lage in Griechenland, deren allgemeine Schlussfolgerung hieß: „Der Fall Griechenland zeigt einen Krisenfall des Weltkapitalismus an“. 2016 folgten bei IVA Auseinandersetzungen mit politökonomischen Fragen, die an die marxistische Tradition anknüpften (Rolle des Finanzkapitals, religiöse Kapitalismuskritik), worauf dann in den Jahren 2017 und 2018 die zehn Folgen der Reihe „Marx is back“ als Überblick über das – oft seltsame – Wiederentdeckungsinteresse veröffentlicht wurden.

Marx-Diskussion geht weiter

Definitiv abgeschlossen ist die Diskussion ums Marxsche Erbe aber nicht. Das damals neu erwachte Interesse hat ja auch zu einigen akademischen Aufbrüchen geführt, wie sie etwa das „Marx-Handbuch“ (2016) von Michael Quante und David P. Schweikard dokumentierte, und damit entsprechende Forschungsvorhaben inspiriert. Quante startete 2023 die Reihe „Philosophical Marx Studies“, die sich als wissenschaftliche Begleitung der Edition der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) versteht. Nachdem in den 1970er Jahren in Berlin und Moskau die Herausgabe einer solchen Ausgabe begonnen worden war, wurde das Vorhaben nach 1989 auf eine neue Grundlage gestellt. Das Internationale Institut für Sozialgeschichte (IISG) ergriff zusammen mit der Ebert-Stiftung die Initiative zur Gründung der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES), die im Oktober 1990 in Amsterdam errichtet wurde. Das Editionsprojekt wird seitdem in Deutschland von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften betreut (https://mega.bbaw.de/de/projektbeschreibung).

In diesem Kontext ist natürlich auch das „Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus“ (Oskar Negt: „Ein Jahrhundertwerk“) zu nennen, das Wolfgang Fritz Haug zusammen mit mehr als 800 Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland seit 1994 herausgibt. Dessen Band 9/II (Einträge „Mitleid“ bis „Nazismus“) ist 2024 erschienen. Hier schreibt Haug im Vorwort, dass man das auf 15 Bände (plus Teilbände) angelegte Opus nicht nur als Nachschlagewerk, „sondern auch oder sogar primär als ‚Vorschlagwerk‘, in dem man auf Erkundung gehen kann“, nutzen sollte. Dabei sei es den Mitwirkenden wichtig, dass „bisher wenig beachtete Stellen der klassischen Texte des Marxismus Licht auf die aktualen Krisenkonstellationen werfen können“. So hat sich mittlerweile auch der Stichwortkatalog ziemlich erweitert.

In diesem Sinne, mit Blick auf die neuen, „multiplen“ Krisenkonstellationen, hat sich ebenfalls die Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie angenommen. Die vor 20 Jahren gegründeten Assoziation (Homepage: https://akg-online.org/) ist ein offener Zusammenschluss von Sozialwissenschaftlern aus dem deutschsprachigen Raum. Er will vor allem an den Hochschulen gesellschaftskritische Theorieansätze in Zeiten ihrer zunehmenden Marginalisierung unterstützen. 2021 diskutierte die AkG auf einer Tagung darüber, wie der Kapitalismus als Wirtschaftssystem in vielfältige Herrschaftsverhältnisse verstrickt ist und was dies für eine zeitgemäße kritische politische Bildung bedeutet. Daraus ist jetzt der Sammelband „Dirty Capitalism“ hervorgegangen (Rodrian-Pfennig u.a. 2024, siehe dazu auch die ausführliche Rezension im socialnet). Das Buch will ein Mehrfaches leisten: Rückgriff aufs theoretische Erbe und Weiterentwicklung der Marxschen Kapitalismuskritik unter Anknüpfung an die frühe, noch explizit kapitalismuskritische Position der Frankfurter Schule, womit zusätzlich eine Aufgaben- und Standortbestimmung der politischen Bildung in Angriff genommen werden soll.

Ein Kapitalismus – viele Attribute

Dabei kommt auch der Trend zum Zuge, mit plakativer Zuspitzung, mit einer Art „Branding“, die Kapitalismusanalyse gewissermaßen neu zu verkaufen. Einer der Spitzenreiter ist hier übrigens das Attribut „digital“ – ein Stichwort, das im zuständigen Band 2 von Haugs Wörterbuch aus dem Jahr 1995 noch fehlte! Es kam erst zu dieser Zeit in Mode, als etwa der sozialdemokratische Schnelldenker Peter Glotz Ende der 90er Jahre mit seiner Diagnose „Digitaler Kapitalismus“ aufwartete. Diese vielfältig verwendbare Vokabel hat die Sozialwissenschaft mittlerweile aufgegriffen, so der Soziologe Philipp Staab mit seiner Veröffentlichung „Digitaler Kapitalismus“ (2019). Wie auch bei den sonstigen Theorien über fordistischen oder postfordistischen, über fossilen oder grünen, über Hoch- oder Spät-Kapitalismus, über dessen Fortentwicklung in einer zweiten, dritten, vierten … industriellen Revolution (Mikroelektronik, IT, KI…) etc. werden meist bestimmte Produktionstechniken und deren Folgen als vorherrschendes Merkmal herausgestellt und damit eine Revision oder Weiterentwicklung der ursprünglichen Kritik der Politökonomie begründet [1].

Dass der Kapitalismus die Produktivkräfte entwickelt, ist aber nichts Neues; der Zwang dazu ist bei Marx im „Kapital“ ja gerade Thema. In kritischen Anmerkungen zur Digitalisierungsdebatte – der neueste Schlager: Künstliche Intelligenz! – ist dies ausführlich behandelt worden (Schillo 2021; Schadt 2022; IVA-Redaktion 2016, 2024). Haug hat in seinen kritischen Anmerkungen zum angeblich ganz neuartigen Online-Kapitalismus, der die alten Verhältnisse umwälzt, den entscheidenden Punkt festgehalten: „Die Mittel herrschen aber nicht“ (Das Argument 2020, S. 28). Was herrscht ist das Produktionsverhältnis, in dem das Kapital die Lohnarbeit in Dienst nimmt und damit seinen Wachstumsbedarf zur Staatsräson macht. Herrschend ist nach wie vor der Zweck, aus Geld mehr Geld zu machen. Aus den Fortschritten, die dabei erzielt werden, leitet sich dann der jeweilige Stand der Produktivkräfte (und – was man heutzutage hinzufügen muss – der gigantischen Destruktivkräfte) ab; daraus ergibt sich die spezielle Machart der Technisierung, ob z.B. Dampfkraft vorherrschend ist oder Elektrizität, daraus folgen bestimmte Konkurrenzmanöver, Neuerungen in der Distribution etc.

Dass das Produktionsverhältnis herrscht, wird in der neuen Veröffentlichung über den „Dirty Capitalism“ jetzt in Frage gestellt, zumindest als theoretisches Problem angefragt und zum Thema einer Diskussion gemacht. Das Attribut „Dirty“ stammt dabei aus einem etwas „trendigen“ Bedürfnis, was zu unproduktiven Auseinandersetzungen und Positionierungen führt und wohl auch bei anderen Attribuierungen eines „postkolonialen“ [2] oder „Racial Capitalism“ (vgl. Kelley 2017) festzustellen ist. Wenn man das beiseite lässt, kann man jedoch in der Sache festhalten, dass hier offensichtlich ein Klärungsbedarf im Blick auf die Marxsche Theorie und deren Gültigkeit unter den Bedingungen eines globalisierten Kapitalismus angesprochen ist.

Die Politikwissenschaftlerin Sonja Buckel hat dazu das Schlagwort „Dirty Capitalism“ in die Debatte geworfen. Das wird dann in dem angezeigten Sammelband – aus unterschiedlichen Blickwinkeln – als mehr oder weniger hilfreiche Orientierungshilfe besprochen. Buckel wollte mit ihrer Intervention eine Lesart des „Kapital“ – angeblich die „reine“ Lehre der marxistischen Orthodoxie, der mit einer „schmutzigen“ Haltung begegnet werden soll – in Frage stellen, nämlich die These, dass der Kapitalismus rein ökonomisch zu erklären sei. Was die AkG-Autoren dazu alles beitragen, lässt sich schwer auf einen Nenner bringen; Widersprüche werden durchaus benannt, auch wird deutlich, dass das Ganze mehr ein Anstoß oder Aufruf sein soll. Dazu wäre im Einzelnen viel zu sagen, festhalten kann man hier aber einen Punkt: Eine „rein ökonomische“ Erklärung des Kapitalismus war nicht die Absicht von Marx.

Gegen Ökonomismus

Gegen eine ökonomistische Auslegung der Marxschen Kapitalismuskritik ist gerade im Sinne ihres Urhebers Stellung zu beziehen. Sie ist ein Fehler, der auch in der Arbeiterbewegung eine Rolle gespielt hat und der noch heute anzutreffen ist. Wenn z.B. in einem Aufruf von marxistisch-leninistisch orientierten Strömungen der Friedensbewegung (http://neuefriedensbewegung.de/) zu einer United Front „gegen die Kriege des Kapitals“ mobilisiert werden soll, dann liegt ein solcher Fehler vor. Die aktuellen Kriege – gemeint sind in dem Aufruf vor allem Ukrainekrieg und Gazakrieg – sind keine, die das Kapital führt oder führen lässt. Im Gegenteil, wenn man im Kontext der neuen antirussischen Frontbildung auf Deutschland blickt, zeigt sich gerade, wie sich die Politik unmittelbar gegen Kapitalinteressen aufgestellt und dabei Widerspruch erfahren, sich aber letztlich durchgesetzt hat. Imperialismus, das wäre hier der grundsätzliche Punkt, ist nämlich nicht einfach das Werk des Monopolkapitals, das seinen Standorthüter zu Raubzügen im Ausland drängt oder zwingt – was es dann auch noch in der vulgärmaterialistischen Variante gibt, derzufolge die Unfriedlichkeit auf dem Globus aus dem Profitinteresse der Rüstungsindustrie kommt.

Oder wenn Theorien des modernen Liebeslebens sich beim „Kapital“ bedienen und etwa darauf stoßen, dass den Liebenden die „Akkumulation erfolgreicher Interaktionsrituale emotionale Energien (verschafft)“, die dann „auf einem Markt ausgetauscht“ werden, wo „das sexuell-ökonomische Subjekt“ agiert; denn „wie Aktionäre können Liebende aus einem ‚Unternehmen‘ aussteigen, um in ein profitableres zu investieren“ (Eva Illouz, Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 12, 2012, S. 103; Nr. 2, 2019, S. 117, 115). So soll am Schluss der tendenzielle Fall der Profitrate auch noch den „Marktwert“ von Frauen beeinflussen oder ähnliches Liebesleid verursachen, denn im „skopischen Kapitalismus“ (den es mittlerweile auch gibt) werden „Interaktionen zwischen Menschen zunehmend marktförmig strukturiert“ (https://kritisch-lesen.de/rezension/liebe-in-zeiten-des-kapitalismus).

Solche ökonomistischen Analysen ignorieren völlig, dass in der bürgerlichen Gesellschaft das Privatleben (das der Staat mit seinen verpflichtenden Aufträgen an Ehe und Familie regelt) als Gegenwelt zum Erwerbsleben konzipiert ist und auch so verstanden wird. Dabei kennt die geforderte und geteilte Sittlichkeit ihre Konjunkturen, die aber an der Hauptsache nichts ändern: Dass es nämlich dieselben Konkurrenzindividuen sind, die sich aus dem ökonomischen Daseinskampf in die frei gewählte Freizeitgestaltung verabschieden. Deswegen finden sich hier natürlich Ähnlichkeiten mit der Konkurrenzordnung des Geldverdienens. Aber dann hat man es mit Folgen der „ökonomischen Basis“ zu tun, mit Analogien und nicht mit dem unmittelbaren Wirken der politökonomischen Gesetze.

Insofern kann man den Appell des „Dirty Capitalism“ als Erinnerung daran nehmen, dass die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie im ersten Band des „Kapital“ vorliegt, nicht auf ein autonomes Regime ökonomischer Gesetze zielt. Marx verweist ja immer wieder – von den ersten Tatbeständen der Warenanalyse über die Kämpfe um den Normalarbeitstag oder die Fabrikgesetzgebung bis zur „ursprünglichen Akkumulation“ – darauf, dass die kapitalistische Art zu Wirtschaften nicht rein ökonomisch zu erklären ist. Vorausgesetzt ist stets eine staatliche Gewalt, die das Privateigentum garantiert, dessen Konfliktpotenzial betreut und materielle wie personelle Bedingungen einer erfolgreichen Akkumulation erst herstellt. Kapitalismus ist also – diese Betonung bei Rodrian-Pfennig u.a. ist zutreffend – eine Gesellschaftsformation und nicht nur der ökonomische Unterbau einer sozialen Welt, die selber nach anderen Prinzipien verfährt oder – so die beliebte idealistische Verlängerung – verfahren könnte und müsste.

Diese Gesellschaftsformation hat eine ökonomische Basis, deren Analyse Marx im ersten Schritt fertig gestellt hat (während er die Kritik an Staat und Imperialismus nicht mehr ausarbeiten konnte). Und um diese spezielle Art der Warenproduktion her- und sicherzustellen, bedarf es eines massiven staatlichen – repressiven und regulierenden – Aufwands, der den Kapitalismus zu der, in Kurzform gesprochen, einzigartigen Symbiose von Geschäft und Gewalt macht, die nicht nur global Menschen jeden Geschlechts oder jeder Hautfarbe ausnutzt oder aussortiert, sondern die es sogar schafft, mit ihren Destruktivkräften die Zukunft des Globus aufs Spiel zu setzen.

Anmerkungen

[1] Die Etikettierungen sind umstritten, die Periodisierungen auch. Modewörter kommen und gehen, „(Mikro-)Elektronik“ ist out, „Digitalisierung“ seit Beginn des 21. Jahrhunderts in. Mittlerweile gibt es ja auch laut dem Autorenduo Holger Marcks & Maik Fielitz einen „digitalen Faschismus“ und von NGO‘s kommt der Vorwurf eines „digitalen Kolonialismus“ (www.brot-fuer-die-welt.de). Als alternative Bezeichnung für die ökonomische Digitalisierung hat sich, auch auf Grund entsprechender Regierungsprogramme, der Terminus „Industrie 4.0“ eingebürgert. Dessen landläufige Definition lautet: „eine Wortschöpfung, die nach der Mechanisierung (Industrie 1.0), der Massenproduktion (Industrie 2.0) und der Automatisierung (Industrie 3.0) die digitale Vernetzung aller an der Produktions- und Wertschöpfungskette beteiligten Menschen, Maschinen, Prozesse und Systeme beschreibt und auch als vierte industrielle Revolution bezeichnet wird“ (Duden-Lexikon Wirtschaft von A bis Z, 2016). Und das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung fragt 2021 „Biotechnologie – die nächste industrielle Revolution?“, während als „letzte industrielle Revolution“ (so ein Buchtitel) die Nanotechnologie im Wartestand ist.

[2] Von Michael Kuhn gibt es auf 99:1 eine Reihe, die sich mit der Kritik des „Postkolonialismus“ beschäftigt. Zuletzt wurde dort am 28. Mai 2024 die Folge „Grund & Fehler der Postkolonialen Theorien“ gesendet, siehe: https://www.youtube.com/watch?v=PuiJyt3PKTo. Kuhn ist auch Mitherausgeber der Publikationsreihe „Beyond the Social Sciences“, die im ibidem-Verlag, Stuttgart, erscheint. 2020 veröffentlichte er dort zur „Sozialwissenschaft der Bürgergesellschaft“ den Band 1: „Kritik der Globalisierung und De-Kolonialisierung der Sozialwissenschaften“.

Nachweise

Das Argument, Nr. 335: Online-Kapitalismus – Zur Umwälzung von Produktions- und Lebensweise. Hamburg 2020 argument.de.

Wolfgang Fritz Haug (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 1. 1. Aufl., Hamburg (Das Argument) 1994 http://inkrit.de/neuinkrit/index.php/de/publikationen/hkwm.

IVA-Redaktion, Betrifft: Industrie 4.0. IVA, Texte2016, Juni https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts16#betrifftindustrie_40.

IVA-Redaktion, Marxistische versus Künstliche Intelligenz. IVA, Texte2024, Mai https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts24#marxistische_versus_kuenstliche_intelligenz.

Robin D. G. Kelley, What is Racial Capitalism and why does it matter? University of California, Los Angeles, November 2017 https://simpsoncenter.org/katz-lectures/what-racial-capitalism-and-why-does-it-matter.

Michael Quante/David P. Schweikard (Hg.), Marx-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart (Springer) 2016. Quante ist auch Herausgeber der Reihe „Philosophical Marx Studies“, siehe zum Start der Reihe die Rezension im socialnet: https://www.socialnet.de/rezensionen/30941.php.

Margit Rodrian-Pfennig/Holger Oppenhäuser/Georg Gläser/Udo Dannemann (Hg.), Dirty Capitalism. Politische Ökonomie (in) der politischen Bildung. Hg. im Auftrag der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG). Münster (Westfälisches Dampfboot) 2024. Siehe die Rezension im socialnet: https://www.socialnet.de/rezensionen/32240.php.

Peter Schadt, Digitalisierung. Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie. Köln (PapyRossa Verlag) 2022 https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts23#buchtippdigitalisierung.

Johannes Schillo (Hg.), Zurück zum Original – Zur Aktualität der Marxschen Theorie. Hamburg (VSA) 2015.

Johannes Schillo, „Digitaler Kapitalismus“. Untergrund-Bättle, 11. März 2021 https://www.untergrund-blättle.ch/.

Philipp Staab, Digitaler Kapitalismus – Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit. Berlin (Suhrkamp) 2019.


Hat das Land einen „Corona-Kater“?

Eine Aufarbeitung der staatlichen Seuchenbekämpfung fordern nicht nur Stimmen aus der hiesigen „Gegenöffentlichkeit“, so etwa die NachDenkSeiten. Auch Vertreter der „Mainstreammedien“ halten das für dringend nötig. Dazu ein Kommentar von Johannes Schillo.

Schon während der Lockdown-Phase der Seuchenbekämpfung, die im März 2020 begann, gab es politische Statements, die auf die Notwendigkeit einer zukünftigen Aufarbeitung des Regierungshandelns hinwiesen. So z.B. von Gesundheitsminister Jens Spahn, der dann 2022 nach seiner Zeit im Amt das Buch „Wir werden uns viel verzeihen müssen“ vorlegte und damit einen Satz zitierte, den er bereits in der Corona-Phase während einer Bundestagsrede gesagt hatte. Ein „vielversprechender Titel“, der „nach früher Selbstkritik“ klang, meinte dazu die FAZ (29.4.2024), „aber der Autor ging dann doch recht nachsichtig mit sich um. Seither ist die Bereitschaft führender Pandemiepolitiker, kritisch auf ihr Wirken zurückzublicken, in Schüben gewachsen.“ Denn, so die FAZ zum „Corona-Kater“, der angeblich der hiesigen Öffentlichkeit zu schaffen macht:

„Immer mehr Politiker führen den Vertrauensverlust der Bürger auf die Fehler der Pandemiepolitik zurück. Jetzt soll sie aufgearbeitet werden – aber wie? Wenn Jens Spahn auf die Corona-Zeit zurückblickt, ist ihm inneres Ringen anzumerken. Einerseits zeigt er sich überzeugt, das Land im Großen und Ganzen gut durch die Hauptphase der Pandemie gesteuert zu haben, andererseits gibt er zu, dass einige der Schutzmaßnahmen in der Rückschau über­trie­ben waren und auch der Ton gegenüber Kritikern nicht immer saß.“ (FAZ)

„Das Schweigen sollte enden“

„Dieses Buch birgt politischen Sprengstoff“ kommentierte die Bildzeitung (22.9.2022) Spahns Veröffentlichung und brachte als Beleg etwa die Seitenhiebe des ehemaligen Gesundheitsministers auf Politikerkollegen oder auf den Virologen Christian Drosten. Als brisanten Vorwurf nannte Bild die Schuldzuweisung an die bayerische Regierung wegen der (rückblickend als übereilt eingestuften) Schulschließungen: „Söders Handeln habe den Schul-Lockdown erst möglich gemacht!“. Nicht der CSU-Mann, sondern der CDU-Mann hatte – wenn man jetzt zurückblickt – also recht; nicht der eine Virologe, sondern der andere gab eine realistische Einschätzung des weiteren Krankheitsverlaufs ab; und immer wieder vergriff sich ein Medienschaffender beim Abkanzeln von Skeptikern, weil er auf den offiziell mitgeteilten Sachstand vertraute, während eine verlässliche Datenbasis für die ergriffenen Maßnahmen oder für das prognostizierte Desaster im Gesundheitswesen nicht existierte.

„Und wenn massiv grundrechtseinschränkende Maßnahmen erlassen wurden, um das Gesundheitssystem zu schützen,“ fragt jetzt der Journalist Andreas von Westphalen (2024, Teil 2), hat man sich da nicht eine Notstandsdefinition eingehandelt, die Schule machen könnte? Rückblicken müsste man daher die Frage stellen: „Inwiefern öffnet das Tür und Tor, andere selbstschädigende Verhaltensweisen zu verbieten (Rauchen, Alkohol) und gesundheitsfördernde Verhaltensweisen zu erzwingen (Sport etc.)?“ Dabei will der Autor nicht dagegen polemisieren, dass die Verfassung der BRD ein Notstandsrecht kennt, sondern nur die Anwendung auf den konkreten Fall problematisieren. Westphalen hat dazu im Online-Magazin Telepolis Ende April 2024 eine dreiteilige Reihe veröffentlicht, die als „Weckruf zur umfassenden Aufklärung“ gedacht ist und mit der Forderung einsteigt: „Das Schweigen sollte enden“.

Wie gezeigt, trifft der Vorwurf des Verschweigens jedoch nicht die aktuelle Lage ‚nach Corona‘, wo sich gerade ein Bedürfnis nach Abrechnung bemerkbar macht. Politiker betreiben eine eifrige Konkurrenz untereinander, Wissenschaftler und Medien tun das in ähnlicher Weise, da häuft sich – gerade in einer allgemeinen Notlage – Einiges an Stoff an, um den lieben Mitkonkurrenten nachträglich das eine oder andere reinzureiben. Westphalens Bilanz, die er in der Telepolis-Reihe ausbreitet, hat auf weite Strecken den Charakter einer solchen Abrechnung, wie man sie auch in den Mainstreammedien findet. Das passt dazu, dass sich Telepolis nach den letzten Auskünften der Redaktion eigentlich nicht mehr als Medium der Gegenöffentlichkeit versteht, sondern eher als (notwendige) Ergänzung zum Normalbetrieb.

Westphalen listet vieles von dem auf, was jetzt zwischen Behörden, Bundes- oder Landespolitikern an Vorwürfen hin- und hergereicht oder im Wissenschaftsbetrieb als Klärungsbedarf angemeldet wird. Wo es dann heißt, man müsste jetzt die Dinge genauer unter die Lupe nehmen, die damals in aller Eile als unabweisbare Notwendigkeit oder als sichere Erkenntnis gehandelt wurden. Dabei kommt auch immer wieder der Hinweis darauf, dass in der BRD die statistische Erfassung der Gesundheits- bzw. Krankheitsdaten zu wünschen übrig lässt (wg. Datenschutz, Eigenheiten des Gesundheitssystems etc.). Im Blick darauf problematisiert Westphalen (in Teil 2), ob die Krankenhäuser durch die Corona-bedingte Notlage tatsächlich bedroht waren: „Wann genau war dies der Fall und was tat die Regierung konkret, um die Belastungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu verbessern?“ Und dann fällt nebenher die Bemerkung, dass man hier auch „an einen zentralen Aspekt der Corona-Jahre erinnern“ könnte, der jedoch nicht im Zentrum der Aufarbeitung stehe. Als Beleg wird die Tageszeitung Die Welt (16.4.2024) angeführt, die also zur Corona-Aufarbeitung – wie die anderen Medien auch – ihren Beitrag leistet und eben nicht schweigt:

„Es gibt eine bittere, aber zentrale Wahrheit der Pandemie, die bei der Aufarbeitung oft in Vergessenheit gerät. Hätte es in den Kliniken mehr Pflegepersonal gegeben, wären weniger Betten gesperrt worden, etwa auf der Intensivstation, dann hätten mehr Patienten aufgenommen werden können. Und das Gesundheitssystem insgesamt wäre funktionstüchtiger gewesen“. (Die Welt) Ja, hätte man sich das Personal mehr kosten lassen! Wäre man nicht so sparsam gewesen! Wie konnte man nur? Vielleicht sollten die Aufarbeitungs-Experten bei der Welt einmal bei ihren Kollegen vom Wirtschaftsteil nachfragen, warum man in Deutschland bei der Ausstattung mit bzw. Bezahlung von Pflegepersonal, dessen Arbeit (wie unter Lockdown-Bedingungen zu erfahren) geradezu heldenhaften Charakter hat, nicht großzügig verfahren kann; warum Lohnkosten entschieden einzuschränken und Kämpfe zur Verbesserung der Arbeitssituation stets unpassend sind.

Eine Pandemie, die „polarisiert“

Immerhin, am Rande wird dann doch noch an die soziale Frage erinnert, die es am deutschen Standort also auch gibt. Und man kann dazu sogar Erkenntnisse kritischer Forschung finden. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge hat mittlerweile drei Studien vorgelegt, die einen anderen Blick auf die gesellschaftliche Lage ‚unter‘ und ‚nach‘ Corona ermöglichen. Seine erste Veröffentlichung „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ von 2020 resümierte die Entwicklung seit der Finanzkrise und lieferte im Schlussteil eine erste wissenschaftliche Analyse der sozialen Lage unter den neuen Bedingungen staatlicher Seuchenbekämpfung. Der Durchgang durch die sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen kam dabei gleich zu dem Schluss, dass die von Ökonomen wie Thomas Piketty vertretene These, globale Krisenlagen hätten einen egalisierende Wirkung, nicht zutrifft.

„Wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg“ werde vielmehr erkennbar, „dass trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards im Weltmaßstab sowie entgegen allen Beteuerungen, die Bundesrepublik sei eine klassenlose Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit aller Mitglieder, ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für wenige Wochen ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt.“ (Butterwegge 2020, 141f) Wie unter einem Brennglas zeigten sich also in der Krisenlage lauter Befunde, die den grundlegenden Klassencharakter dieser Gesellschaft deutlich machen.

Die Kritik des Armutsforschers zielt dabei auch auf die sozioökonomische Grundlage, auf die durch das Wirtschaftssystem gegebene prinzipielle Verschiedenartigkeit von Einkommen und Vermögen bei der breiten Masse der arbeitenden Bevölkerung auf der einen Seite und bei den Privateigentümern von Produktionsmitteln (oder Grund und Boden) auf der anderen. Die kritische Richtung (für die Butterwegge steht) interessiert sich nicht in erster Linie für eine Skalierung quantitativer Abstufungen, die sich dann – wie in der empirischen Armutsforschung üblich – unter Einsatz verschiedener Parameter messen und vergleichen lassen. Im Anschluss an die Marxsche Theorie erinnert Butterwegge vielmehr an den Gegensatz, in dem Kapitaleinkommen und Lohnarbeit stehen. Wer über Kapital verfügt, hat nicht einfach etwas mehr von dem Stoff, den alle zum Leben benötigen, sondern eine Machtposition über die Arbeit: „Vermögen wirkt reichtumsfördernd und -erhaltend zugleich. Lohn und Gehalt kann hingegen schlagartig entfallen, wenn die Einkommensquelle mit dem Arbeitsplatz oder dem eigenen (Klein-)Unternehmen … versiegt“ (Butterwegge 2020, 22f).

Entscheidend ist hier, dass die Einkommensquelle Lohnarbeit einen Dienst am Kapitalreichtum leistet und a priori zu leisten hat, denn nur unter dieser Bedingung, dass ihre Anwendung rentabel ist, wird ja ein Arbeitsplatz geschaffen. Dass Einkommensquellen versiegen können, ist übrigens ein Schicksal, das in der durchgesetzten globalen Konkurrenz allen Wirtschaftsakteuren droht; nicht nur kleine Unternehmer, sondern auch große Vermögen können im Fall des Falles Schaden nehmen. Wer aber Vermögen im nennenswerten Umfang besitzt, also über eine Geldsumme verfügt, die als Kapital fungiert und damit fremde Arbeit in Dienst zu nehmen vermag, hat die Möglichkeit, die Armut der anderen als sein Bereicherungsmittel einzusetzen. Dass dies keine Möglichkeit bleibt, sondern im modernen „digitalen Finanzmarktkapitalismus“ in einer Extremform verwirklicht ist, in der wenige „transnationale Kapitalorganisatoren“ sich einen Hyperreichtum aneignen, während Millionen Menschen in absoluter Armut leben, führt Butterwegge als den entscheidenden Skandal an (vgl. Butterwegge 2020, 122f).

Dabei bescheinigt er einerseits dieser „Polarisierung“ ihre Systemnotwendigkeit, andererseits greift er sie als Folge eines Politikversagens an, das sich der Vorherrschaft einer „neoliberalen“ Ideologie verdanken soll. Da erscheint die gegenwärtige Lage dann eher als ein reversibler Zustand, in dem der „soziale Ausgleich“ (Butterwegge 2024, 246) mit Reformen des Steuersystems (Vermögensteuer) oder der Sozialversicherungen (Bürgerversicherung) rasch auf den Weg gebracht werden könnte. „Umverteilung“ (wozu der Autor ein neues Buch angekündigt hat) soll eine entscheidende Rolle spielen. Zugleich heißt es aber auch hier wieder einschränkend, dass verteilungspolitische Maßnahmen nicht ausreichen werden, „wenn die Reproduktion der sozioökonomischen Ungleichheit dauerhaft unterbunden werden soll“ (Butterwegge 2020, 8). In der letzten Veröffentlichung von 2024 betont Butterwegge in ähnlicher Weise, dass man sich nicht an der ideologischen Perspektive eines Gemeinwesens orientieren dürfe, in dem sich am Ende „Klassengegensätze in Luft aufgelöst haben“ und „auf die Austragung von Interessenkonflikten verzichtet werden soll“ (Butterwegge 2024, 211). Die notwendige Transformation der sozioökonomischen Grundlage müsse von der „Machtbalance zwischen Kapital und Arbeit“ (Butterwegge 2024, 246) ausgehen.

Eben eine Klassenfrage

Dass Corona – bzw. die Schadensbilanz, die dadurch entstanden ist – als Klassenfrage zu nehmen ist, hat Butterwegge in der Studie von 2022 ausführlich dokumentiert. Die „Coronakrise“ habe „das Phänomen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ungleichheit nicht hervorgebracht“, aber wie ein „Spaltpilz lange verschüttete Klassenstrukturen der Gesellschaft offen“ gelegt (Butterwegge 2022, 87). Dieser Befund wird detailliert entfaltet, wobei der Autor die Auswirkungen auf das Geschlechter- und Generationenverhältnis in den Mittelpunkt rückt und dem Bildungsbereich und der Situation von Kindern und Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit schenkt. „Selbst wenn die Pandemie für immer überwunden sein sollte“, heißt es dazu abschließend, „hat sie zu einer Krise der Kindheit geführt und Kinder der Krise hinterlassen“ (Butterwegge 2022, 203). Butterwegge geht auch auf die Defizite in der Bildungs- und Sozialarbeit ein. Unterstützende und kompensatorische Maßnahmen seien hier gerade zu einem Zeitpunkt, als sie am stärksten gebraucht wurden, vernachlässigt worden: „Dadurch geriet die Soziale Arbeit als Profession regelrecht in eine Sinnkrise“ (Butterwegge 2022, 206).

Ganz anders als der gängige Aufarbeitungsdiskurs mit seinen Schuldzuweisungen und Besserwissertouren macht Butterwegge also auf das Grundproblem der Gesellschaft aufmerksam. Wie er auch in früheren Studien entwickelt hat, geht es um den Gegensatz von Arbeit und Kapital. Letzteres wirkt reichtumsfördernd und -erhaltend zugleich, während Lohn und Gehalt die abhängige Größe darstellen, die den Dienst am Kapitalreichtum zu leisten hat und nur unter dieser Bedingung als Einkommensquelle funktioniert. Butterwegge bezieht das in seiner jüngsten Studie vom Frühjahr 2024 auf die aktuelle „multiple“ Krisenlage. Im Blick auf die verschiedenen Krisenaspekte ökonomischer, ökologischer oder weltordnungspolitischer Natur wendet er sich gegen die übliche ideologische Beschönigung der bestehenden Wirtschaftsordnung, die deren Probleme auf lauter externe Faktoren zurückführt und somit das Bild eines Gemeinwesens zeichnet, das eigentlich intakt ist und in dem die Bevölkerungsmehrheit keinen Grund hat, sich über neue Zumutungen zu beschweren.

Butterwegge kritisiert besonders, dass sich die Politik mittlerweile zur Alternative „Rüstungs- oder Sozialstaat“ bekennt und sich zugunsten eines „Hochrüstungskurses“ und einer weiteren „Remilitarisierung der Gesellschaft“ (Butterwegge 2024, 199) entschieden hat. Die „Polarisierung“, die es vor und während Corona gab, geht eben weiter ihren Gang, während sich die offizielle Aufarbeitung vor allem mit Schuldfragen befasst. Deren Ziel: Der Bürger soll wieder neues Vertrauen in die Politik fassen können. Das, was Menschen, die auf Lohnarbeit und staatliche Transferleistungen angewiesenen sind, im Namen eines entschiedenen Hochrüstungskurses zugemutet wird, ist da im Grunde abgehakt. Butterwegge dagegen kritisiert die Alternativlosigkeit dieses Kurses. Den angeblich von außen kommenden Sachzwang zu einer „Zeitenwende“ macht er als den selbstbewussten Aufbruch einer deutschen Großmachtpolitik kenntlich.

Alles in allem, eine sozialwissenschaftliche Bilanz, die den beklagten Vertrauensverlust nicht heilt. Deshalb werden solche „zentralen Aspekte“ in der öffentlichen Diskussion auch nur am Rande erwähnt.

Nachweise:

Christoph Butterwegge, Ungleichheit in der Klassengesellschaft. Köln (PapyRossa) 2020.

Christoph Butterwegge, Die polarisierende Pandemie – Deutschland nach Corona. Weinheim und Basel (Beltz Juventa) 2022.

Christoph Butterwegge, Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe von „Die polarisierende Pandemie“. Weinheim und Basel (Beltz Juventa ) 2024. Siehe dazu die Rezension im socialnet vom 26.4.24: https://www.socialnet.de/rezensionen/32143.php

Jens Spahn (mit Ko-Autoren), Wir werden einander viel verzeihen müssen: Wie die Pandemie uns verändert hat – und was sie uns für die Zukunft lehrt. Innenansichten einer Krise. München (Heyne) 2022.

Andreas von Westphalen, Corona-Untersuchung: Das Schweigen sollte enden (Teil 1). Telepolis, 24.4.2024 https://www.telepolis.de/features/Corona-Untersuchung-Das-Schweigen-sollte-enden-9695736.html

Andreas von Westphalen, Corona-Aufarbeitung: Was wussten wir wirklich? (Teil 2) Telepolis, 25.4.2024 https://www.telepolis.de/features/Corona-Aufarbeitung-Was-wussten-wir-wirklich-9698088.html

Andreas von Westphalen, Corona-Krise: Ein Weckruf zur umfassenden Aufklärung (Teil 3). Telepolis, 27.4.2024 https://www.telepolis.de/features/Corona-Krise-Ein-Weckruf-zur-umfassenden-Aufklaerung-9698162.html


Marxistische versus Künstliche Intelligenz

Peter Schadt hat in den letzten Jahren verschiedene Texte zur politischen Ökonomie der Digitalisierung vorgelegt und ist jetzt mit einem Forschungsprojekt befasst, das sich auf die Künstliche Intelligenz konzentriert. Dazu ein Hinweis der IVA-Redaktion.

2022 hat Peter Schadt, Sozialwissenschaftler und Gewerkschaftssekretär, kritisches „Basiswissen“ zum allseits beschworenen „Megatrend“ Digitalisierung veröffentlicht, worauf IVA unter Texte23 („Buchtipp: Digitalisierung“, April 2023) hingewiesen hat. Die Leitfrage lautete dabei: „Wessen Digitalisierung zu wessen Nutzen?“. Der Fokus richtete sich also auf die ökonomischen Interessen, die bei dieser neuen Stufe der Technisierung von Produktion und Distribution den Ausschlag geben. In der landläufigen Berichterstattung und Kommentierung – ob sie jetzt mehr die Risiken oder mehr die Chancen der Digitalisierung betont – bleibt es dagegen meist bei der Beschwörung eines „Geistersubjekts“, eben eines universellen Trends, der heutzutage ablaufen soll und dem sich keiner entziehen kann; der vielmehr als der unhintergehbare Stand der technischen Anforderungen zu nehmen ist, der nur noch die Frage nach seiner angemessenen Gestaltung aufwirft.

„Politische Strategien zur Künstlichen Intelligenz“

Schadt, der auch schon 2020 eine umfangreiche Studie zur Digitalisierung in der deutschen Autoindustrie vorgelegt hatte, kritisiert diese öffentliche Thematisierung eines neuen Sachzwangs. „Kein Tag vergeht mehr, ohne dass ein Artikel zu den ‚Chancen und Risiken' der Digitalisierung erscheint“, stellt er fest; Analysen zu den ökonomischen Triebkräften dieses „Megatrends“ seien dagegen Mangelware. Was die Ausnahmen betrifft, wäre etwa auf die Artikelreihe der marxistischen Zeitschrift //Das Argument// zum „Digitalen Kapitalismus“ hinzuweisen, die die Umwälzung von Produktions- und Lebensweise analysierte. Schadt setzt solche politökonomischen Analysen mit seinem Forschungsprojekt „Politische Strategien zur Künstlichen Intelligenz“ fort, über dessen Start er jüngst in //Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung// (Nr. 137, März 2024 ) informiert hat.

Zunächst ist die Veröffentlichung einer dreiteiligen Reihe von „Materialien zur politischen Ökonomie der Digitalisierung“ geplant. Der erste, jetzt vorliegende Teil konzentriert sich auf die 2018 von der Bundesregierung veröffentlichte „Strategie Künstliche Intelligenz“, die 2020 eine „Fortschreibung“ erhielt und 2023 durch den „KI-Aktionsplan“ ergänzt wurde. In dem Papier von 2018 wurde gleich eingangs das politische Anspruchsniveau deutlich gemacht: „Wir wollen Deutschland und Europa zu einem führenden KI-Standort machen und so zur Sicherung der künftigen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands beitragen.“ Schadt bringt eine kritische Durchsicht der Arbeitsfelder, die von der Politik deswegen ins Auge gefasst werden. Das soll in den weiteren Teilen fortgesetzt und abschließend in einer neuen Veröffentlichung aufgearbeitet werden.

KI und die Eigentumsordnung

Unter dem Titel „Die Gedanken sind freilich Privatbesitz“ hat Schadt jüngst in der Zeitschrift Konkret (Mai 2024, S. 40-41) einen Text veröffentlicht, der darauf eingeht, wie sich im Zeitalter von KI die Widersprüche des geistigen Eigentums verschärfen. Der zentrale Widerspruch besteht hier in der Eigenart des Wirtschaftsgutes, das der exklusiven Verfügungsmacht eines Eigentümers zugeordnet wird, wo es doch seiner Natur nach gerade durch allgemeiner Zugänglichkeit gekennzeichnet ist. Wissen ist Resultat „allgemeiner Arbeit“ (Marx), fußt auf vorausgegangenen geistigen Leistungen und wird durch neue Erkenntnisse erweitert oder präzisiert – also durch Bestandteile, die einmal bekannt gemacht von jedem intellektuell angeeignet werden können, ohne dass von dem ursprünglichen ‚Gut‘ etwas weggenommen würde oder die Schranken einer geschützten Besitzsphäre überwunden werden müssten.

Wenn ein Ergebnis geistiger Arbeit als Ware gehandelt, also nur gegen Zahlung bereit gestellt werden soll (sei es jetzt eine wissenschaftliche Erkenntnis oder eine kreative Leistung, die dem künstlerischen Bereich zuzuordnen ist), müssen daher besondere Vorkehrungen getroffen werden, um die Zugänglichkeit wieder exklusiv zu machen. Dazu gibt es in der bürgerlichen Gesellschaft das aufwändige juristische Konstrukt des Urheberrechts, das die Verfügung bzw. das Zur-Verfügung-Stellen in Sachen geistiges Eigentum regelt. Der Urheber darf seine gedanklichen Leistungen mit einem Preisschild versehen – wobei aber gleich die Frage aufgeworfen wird, wo genau seine Urheberschaft beginnt und wo sie endet. Der Urheber kann seine Leistung einem Unternehmer überlassen, der deren Vermarktung betreibt – wobei dieser aber automatisch in Konkurrenz zu Seinesgleichen und zu den Lieferanten aus der Kopfarbeiterszene tritt usw.

Jedenfalls ist das der Stoff, der viele nationale und internationale Auseinandersetzungen am Leben erhält. KI bringt hier nichts grundsätzlich Neues an Konfliktpotenzial, fügt dem nur weiteres Material hinzu, wo Geschäftsinteressen kollidieren. „Der Widerspruch also“, lautet Schadts Resümee, „noch das Denken auf das Gewaltverhältnis Eigentum zu verpflichten, wird auch 2024 die Gerichte beschäftigen“. Die angekündigte Artikelreihe bei Z wird auf diese Widersprüche im zweiten Teil eingehen, vor allem im Blick auf das Patent- und Urheberrecht. Im dritten Teil werden dann die internationalen Konsequenzen Thema sein (bis hin zu der Rolle von KI bei der modernen Kriegführung).

Im ersten, jetzt vorliegenden Teil geht es um die grundlegende Ideologie vom „Megatrend“ der Digitalisierung, die Schadt hier noch einmal an der Unterabteilung KI dekonstruiert: Immer erscheint der Standort Deutschland als Betroffener von einer Entwicklung, die ihn herausfordert. Er ist gezwungen zu reagieren, damit er nicht den Anschluss verliert – all das natürlich im Sinne des Gemeinwohls und mit einer eindeutig „wertebasierten“ Reaktion, wie die Beschlusspapiere der Regierung versichern. Gleichzeitig machen die Ansagen zur angestrebten Technologieführerschaft auf dem Weltmarkt, d.h. zur Notwendigkeit, sich in der allseitigen Konkurrenzoffensive zu behaupten, und zu den konkreten Maßnahmen in Sachen Unternehmensförderung, Schaffung von „Wagniskapital“ und Erleichterung der Kreditierung deutlich, welches Interesse hier bestimmend ist und bedient werden soll: Das hiesige Kapital soll nicht mehr von einer anderswo forcierten Produktivkraftentwicklung abhängig sein, sondern, umgekehrt, lauter Abhängigkeiten bei den Konkurrenten stiften. Der erste Teil der Analyse schließt dann mit den allgemeinen Notwendigkeiten einer staatlichen Aufsicht, die nicht das eine oder andere Partikularinteresse am Standort, sondern dessen Vorankommen überhaupt befördern will.


April

Red & Black Books

Die IVA-Redaktion hat bereits mehrfach auf Publikationen hingewiesen, die Hermann Lueer bei Red & Black Books herausbringt. Hier eine Aktualisierung.

Hermann Lueer gibt seit einigen Jahren in seinem Verlag Red & Black Books Bücher heraus, die sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung befassen, vor allem mit den abweichenden Tendenzen, die sich gegen den Mainstream von SPD und Gewerkschaften richteten und die etwa der rätekommunistischen Strömung zuzuordnen sind. Dazu gehörte z. B. die Streitschrift „Klassenkampf und Nation“ des Rätekommunisten Anton Pannekoek aus dem Jahr 1912.

Über Pannekoeks Schrift hieß es im Gewerkschaftsforum Anfang 2023, rückblickend aufs abgelaufene Jahr mit seiner Ausrufung einer „Zeitenwende“ durch einen sozialdemokratischen Kanzler: Ein weiterer Blick – mehr als 100 Jahre – zurück auf die Wende von 1914, als sich die Arbeiterbewegung auf den Weg ins Zeitalter der Weltkriege begab, könnte auch Pannekoeks wieder aufgelegtes Pamphlet in den Blick nehmen. Die Neuausgabe der Streitschrift rufe eine historische Zeitenwende in Erinnerung, nämlich die Zäsur, als die Arbeiterbewegung ihre Kapitalismuskritik beendete und aus ihrer internationalistischen Programmatik heraus den Weg zur Bejahung der Nation fand, somit das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) möglich machte.

Dazu hieß es weiter: „Der Rückblick auf den Rätekommunisten Pannekoek erinnerte auch daran, dass man im Grunde den sozialistischen Parteien Europas, allen voran der SPD, die Hauptschuld für das gegenseitige Abschlachten der Nationen geben müsse. Denn ohne die Entscheidung der Partei- und der mit ihr verbundenen Gewerkschaftsführung – Bewilligung der Kriegsanleihen und Ausrufung eines inneren ‚Burgfriedens‘ – und ohne die nachfolgende Bereitschaft der Arbeitermassen, in den imperialistischen Krieg ihrer Herren zu ziehen, wäre es nicht gelungen, die Völker für vier lange Jahre gegeneinander in Stellung zu bringen.“

Der Verlag Red & Black Books hat jetzt eine eigene Website: https://redblackbooks.de/

Dort werden auch die älteren Publikationen angezeigt, z. B. Hermann Lueers Schrift „Warum sterben täglich Menschen im Krieg“. Diese „Argumente gegen die Liebe zur Nation“ erschienen ursprünglich 2010. Sie liegen jetzt in der zweiten Auflage (2020) vor. Neu erschienen ist im April 2024 folgende Publikation: David Adam, „Die Arbeitszeitrechnung und das Absterben des Staates – Beiträge zur Kritik gängiger Irrtümer“ (ISBN 978-3-9825825-2-8, Hardcover, 161 Seiten, 18 €). Das Buch setzt sich mit der Wertkritik auseinander, wie sie in der BRD vor allem durch Robert Kurz bekannt gemacht wurde. Der Verlag teilt zu dieser neuen Aufsatzsammlung mit:

„Marx und Engels haben die Grundprinzipien der Alternative zum Kapitalismus in Übereinstimmung mit ihrer Kapitalismuskritik klar formuliert:

  • Die Arbeitszeitrechnung ist die unvermeidliche ökonomische Grundlage der kommunistischen Gesellschaft.
  • Die Kommune ist die politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen kann.

Libertäre Kapitalismuskritiker mögen diese Alternative nicht. Sie wollen in einer Gesellschaft leben, aber frei von ihr sein. Die Theoretiker dieser modernen Form des utopischen Sozialismus reformulieren ‚die zentralen Kategorien der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie …, um die Grundlage für eine radikalkritische begriffliche Neubestimmung des Wesens der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft zu schaffen.‘ (Moishe Postone)

David Adam zeigt in den hier versammelten Aufsätzen, dass diese ‚Reformulierung der zentralen Kategorien der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie‘ durch die Vertreter der sogenannten Wertkritik, schlicht auf einem falschen Verständnis der Marxschen Wertkritik beruht und dass über diese Revision der Marxschen Kapitalismuskritik zugleich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage der ökonomischen Lebensfähigkeit einer sozialistischen Gesellschaft verhindert wird, indem sie dazu verleitet, die ‚Selbstverwaltung‘ auf der Grundlage der Arbeitszeitrechnung als eine Art kapitalistisches Programm zu betrachten.“

Die Red & Black Books können über die neue Website direkt beim Verlag bestellt werden.


Zur innerlinken Feindbildpflege

Was die Politik im Großen kann, können linke Menschen auch im Kleinen – nämlich ein Bild der moralischen Verkommenheit ihrer Gegner zeichnen, dass es nur so kracht. Dazu ein Hinweis der IVA-Redaktion.

Die Website //Contradictio//, das „Schwarze Brett“ des Gegenstandpunkts, hat Anfang April eine Reihe von Veranstaltungen angekündigt, die unter dem Motto „Der Ruf nach Frieden ist verkehrt!“ standen und die sich mit den Aufrufen zu den diesjährigen Ostermärschen auseinandersetzten – kritisch, wie an den Veranstaltungsankündigungen gleich erkennbar war. Dass in den Resten der ehemals machtvollen deutschen Friedensbewegung oder in deren Umkreis Einspruch laut wird, der versucht, antimilitaristische, antiimperialistische und antikapitalistische Positionen stark zu machen, ist an sich keine Neuigkeit. Die IVA-Website hatte bereits im letzten Jahr unter dem Titel „Ukrainekrieg: Die Jasager und die Neinsager“ (Texte2023, August) auf diverse Initiativen und Wortmeldungen hingewiesen. Diesen Einspruch könnte man etwa unter der Losung „Absage an die Kriegsherren – statt um Frieden bitten“ zusammenfassen.

Zuletzt hatte IVA kurz vor Beginn der diesjährigen Ostermärsche die Initiative „Wer den Kapitalismus nicht kritisieren will, sollte vom Frieden schweigen“ vorgestellt (siehe Texte2024, März), die in dieselbe Richtung zielte. Sie blieb in der Protestszene nicht ganz unbeachtet, wobei jedoch festzuhalten ist, dass der Mainstream der heutigen Friedensbewegung ganz unbeirrt weiter darauf setzt, den (leider nicht mehr sehr breiten) Friedenswunsch der Bevölkerung an die Regierenden zu adressieren und bessere, nämlich soziale Verwendungsweisen der in die Rüstung zu investierenden Milliarden vorzuschlagen. Auch die Versuche von marxistisch-leninistischer oder trotzkistischer Seite, im Gewand einer Neuen Friedensbewegung aufzutreten, haben daran nichts geändert bzw. sich dem bündnispolitisch zugeordnet.

Ein Feindbild mit Tradition

Mit den Ankündigungen auf Contradictio wurde nun eine Kontroverse losgetreten, die anscheinend immer noch nicht beendet und mittlerweile auf fast 40 Beiträge angewachsen ist. Es sei davon abgeraten, diese Kontroverse im Einzelnen nachzuverfolgen. Wer sich einen Eindruck davon verschaffen will, womit man es hier zu tun hat, lese den Startschuss von Rudolf Radler und etwa das, was Karla Kritikus 30 Wortmeldungen später immer noch an verzweifelten Bemühungen unternimmt, um zum sachlichen Kern der Gegenstandpunkt-Kritik zurückzukehren. Radler eröffnete den Streit am 4. April mit einer wütenden Anklage gegen kritische Interventionen in die gegenwärtige Friedensbewegung: Hier solle dem letzten Rest von Protest eine „Klatsche“ erteilt werden mit der Message „Alle doof, außer ich“ und dem Ziel, politische Aktivität zu unterbinden. Das wurde dann von El Che aufgegriffen und in eine ganze Litanei von Anklagen verlängert, die vor allem darauf zielten, dass die Zeitschrift Gegenstandpunkt ein einziges Politikverhinderungsunternehmen sei.

Mit einem Wust von Halbwissen über das Agieren einzelner Personen und den Kreis der Unterstützer wurde hier ein Sittengemälde entworfen, das der klassischen Feindbildkonstruktion entspricht. Wie in der großen Politik heutzutage ein Putin als Inkarnation des Bösen gilt, der im Innern immer nur unterdrücken und nach außen seine Macht möglichst weit ausdehnen will, so soll hier eine Führung sich ihre Anhängerschaft gefügig machen, um damit dann bei der Restlinken die letzten Regungen von Protest zu unterbinden. Wie gesagt, das ist leicht als moralische Diskreditierung erkennbar, die übrigens im Rahmen der ausufernden Contradictio-Kontroverse rasch ins Schleudern kam, wenn einmal die Stichhaltigkeit einzelner Vorwürfe überprüft werden sollte.

Leider muss man hier aber eins ergänzen: Neu ist dieses Feindbild nicht. Seit den legendären Zeiten der Marxistischen Gruppe (MG), dem Vorläufer des Gegenstandpunkts, kursieren solche Vorwürfe. Sie waren etwa eine Domäne der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), speziell als diese sich in den 1980er-Jahren ganz dem Friedenskampf verschrieb und sich dabei – bevor Gorbatschow der real existierenden sozialistischen Systemalternative den Todesstoß versetzte – fast aufrieb (siehe dazu: „Imperialismus gestern und heute“, IVA, Texte2023, November). Eine radikale Kritik am westdeutschen Imperialismus, hieß es damals, lasse Politik- und Eingriffsfähigkeit vermissen; angesagt sei vielmehr die Bereitschaft, sich ins breite Bündnis der um Friedenswahrung besorgten Bevölkerung einzureihen. Ausgestorben ist diese Kritik im Umkreis der DKP heutzutage nicht, obwohl sie dort eher von exzentrischen Figuren vorgetragen wird, z.B. vom Marxisten-Leninisten Marlon Grohn.

Der hat 2019 das Buch „Kommunismus für Erwachsene: Linkes Bewusstsein und die Wirklichkeit des Sozialismus“ (Verlag Das Neue Berlin) veröffentlicht. In der Rezension der UZ (14.2.2020) hieß es dazu, der Anspruch des Buchs, sich an Erwachsene zu richten, ziele „auf Leser, die es mit dem Kommunismus ernst meinen – und das heißt praktisch: mit der Errichtung, Entwicklung und Verteidigung des Sozialismus als langfristig notwendiger Übergangsgesellschaft. Dementsprechend viel Platz verwendet Grohn daher auf das Abarbeiten an linken, im Grunde antikommunistischen Strömungen wie Wertkritik, Antideutschtum, Rätekommunismus oder Anarchismus“. Oder eben Gegenstandpunkt.

Dazu ein Beispiel dieser gnadenlosen Kritik (wobei die sprachlichen Eigenheiten nicht korrigiert wurden). Der Autor nimmt u.a. eine „commünistische“ Herrschaftskritik ins Visier, die den seinerzeit real existierenden Sozialismus nicht als die maßgebliche Realität zur Kenntnis genommen, sondern ihn mit linksradikalen Ideen konfrontiert habe. Damit habe man sich um „Erfordernisse von Möglichkeiten der materiellen Änderung der Welt herumgedruckst.“ (S. 140) Im Unterschied zu Realisten seien solche Kritiker „einfach nicht in den Stande der geistigen Gesittung getreten und weigern sich vehement, es zu tun.“ Der Autor fährt fort: „Der besonders stark von diesem Wahn befallene Karl Held (der sich als westdeutscher Marxologe zeit seines Lebens für einen Kommunisten hielt und bis heute noch von haufenweise Linken für einen solchen gehalten wird) brachte es mit seiner der organisierten Irrationalität zuzurechnenden Gruppierung ‚GegenStandpunkt‘ sogar fertig, das Argument gegen das Erfolgsargument in der linksradikalen Szene salon-, bzw. barackenfähig zu machen: dem Verweis von Realisten auf die schlichte Tatsache, dass die linksemanzipatorischen Vorstellungen sich niemals durchgesetzt hätten, und zwar notwendigerweise, entgegnete er, dies sei ein ‚Erfolgsargument‘ und deshalb das ‚gemeinste‘, also unzulässig – was ihn und seine Anhängerschaft aber nie davon abhielt, sich selbst andauernd dieses ‚Erfolgsarguments‘ zu bedienen, wenn es ihnen in ihren ideologischen Kram passte: Die DDR sei gescheitert, weil die Politik dort keinen Erfolg gehabt habe, da sehe man mal wieder, dass der Bolschewismus nicht funktioniere.“

Alles klar? Zumindest das Feindbild wird erkennbar: Man hat es beim Gegenstandpunkt mit Typen ohne geistige Gesittung zu tun, denen es gar nicht um Veränderung geht, die sich mit lauter Besserwisserei im Bestehenden einrichten und die denjenigen, die wirklich etwas verändern wollen, in die Parade fahren. Der UZ gefiel das, einerseits. „So wird etwa die ‚argumentidealistische Gruppierung GegenStandpunkt‘ nebenbei in einer Fußnote unter Verweis auf Marx’ und Engels’ Widerlegung der Bakuninisten erledigt“, schrieb Rezensent Christopher Tracy. Er ging aber andererseits doch auf eine gewisse Distanz, da realistische Ansätze zur Weltveränderung in dem Buch zu kurz kämen und „Grohns konkrete Maßnahmenvorschläge sich auf ‚das begriffsreiche stalinistische Pöbeln gegen andere Linke‘, also weitere Polemik, beschränken.“ Anschluss an Stalin kommt heute vielleicht bei unzufriedenen deutschen Bürgern nicht so gut an…

Was tun?

Auf Contradictio ist natürlich an die Diskussionsteilnehmer appelliert worden, Schmähungen, die auf persönliche Dinge oder rhetorische Fähigkeiten zielen, zu unterlassen und sich nur zum sachlichen Kern der Kontroverse zu äußern. Und gegen einen solchen Imperativ ist auch nichts einzuwenden. Das Problem ist nur, dass er bei denjenigen, die von der Güte der eigenen Mission beseelt sind und die Notwendigkeit sehen, dem Gegner die Maske vom Gesicht zu reißen und die bösen Absichten beim Namen zu nennen, wenig ausrichten wird. An dieser Stelle kann aber IVA – ausnahmsweise – einmal einen ganz konstruktiven und praktischen Vorschlag machen, was sich hier tun lässt. Man kann nämlich der Internetplattform //99:1// eine Spende zukommen lassen.

Die Leute von 99:1, die sich auch in der besagten Kontroverse kurz zu Wort gemeldet haben, organisieren seit einigen Jahren solche Diskussionen. Sie wollen nicht ein linkes Allerlei bieten, sondern setzen bewusst darauf, dass Standpunkte und Gegenstandpunkte ihre Differenzen austragen. Während sich also sonst der linke „Diskursraum“ verengt – die einzige linke Publikumszeitschrift Konkret z.B Autoren aussortiert, die sich anderswo kritisch zur israelischen Politik äußern, oder das Online-Magazin Telepolis nicht mehr Teil der Gegenöffentlichkeit, sondern eine Art Ergänzung des normalen Medienbetriebs sein will –, bietet 99:1 dem erfreulicher Weise die Stirn. Wer kann, sollte das materiell unterstützen.


März

Wer den Kapitalismus nicht kritisieren will, sollte vom Frieden schweigen

Rudolf Netzsch hat Ende 2023 eine Veröffentlichung zu Klimakatastrophe und -protest vorgelegt und jetzt mit einem Flugblatt zur Vorbereitung der diesjährigen Ostermärsche Stellung genommen. Hier der Text des Flugblatts.

Was ist Frieden?

Betrachtet man die Geschichte der – sagen wir einmal – letzten zweihundert Jahre, so kann man zu dem Schluss kommen:

Frieden, das sind die Zeiten, in denen Kriegsgründe geschaffen werden.

Klingt sarkastisch. Vielleicht fragt ihr jetzt irritiert: Soll uns das denn davon abhalten, für den Frieden einzutreten, Verhandlungen zu fordern? Klar, Krieg ist furchtbar und seine Beendigung zu fordern deshalb nie verkehrt. Nur sollte man darauf achten, in der Argumentation nicht zu kurz zu greifen. Wer bloß ganz allgemein Verhandlungen als die bessere Alternative benennt, verpasst das Entscheidende. Sehen wir uns einmal an, worüber unter Außenpolitikern verhandelt wird. Da drängt sich die Antwort auf: über Kriegsgründe! Denn es ist doch auffällig:

  • Jedem Krieg gehen Verhandlungen voraus.
  • Jeder Krieg wird durch Verhandlungen beendet
  • Bei allen Verhandlungen steht die militärische Stärke und Position der Verhandlungspartner – zumindest als der redensartliche Elefant – im Raum.
  • Während des Kriegs ist es üblich, militärische Ziele so zu bestimmen, dass sie einen möglichst guten Ausgangspunkt für eventuelle Verhandlungen bieten.

Friedliche Verhandlungen und kriegerische Feldzüge sind also engstens miteinander verzahnt. Die entscheidende Frage lautet daher: Was sind die Gründe, die die Staaten ständig zueinander in Gegner­schaft bringen, so dass sie immer wieder streiten, zunächst in Verhandlungen und vor interna­tio­na­len Insti­tu­tio­nen, aber am Ende auch auf den Kriegsschauplätzen? Geht es um die berühmten „Werte“? Nun ja, mit Blick darauf, wie selektiv dieses Argument gebraucht wird, glauben wohl nur wenige wirklich ganz fest daran – und doch greifen fast alle gern darauf zurück, wenn es darum geht, die eigene Parteinahme zu begründen. Deutlich plausibler ist da schon der Hinweis auf wirt­schaft­liche Inter­essen, auch wenn mancher sich scheut, das direkt auszusprechen.

Denn es ist die Wirtschaft, durch die die Staaten untereinander in Abhängigkeiten geraten: Sie be­nö­tigen und benutzen sich wechselseitig als Rohstofflieferanten, Absatzmärkte und Arbeitskräf­te­reservoir und das führt unweigerlich zu Konflikten. Frei­lich ist das nicht so zu verstehen, dass jeder Staat, der sich irgendwie von einem anderen wirt­schaft­lich benachteiligt fühlt, gleich zu den Waffen greift. Da befände sich längst jedes Land im Krieg mit jedem anderen. Viel­mehr wird erst einmal „schiedlich friedlich“ um möglichst günstige Zugriffsbe­din­gungen auf Reich­tum und Ressourcen der anderen Nationen gefeilscht.

Alle Staaten treten als Betreuer ihres jeweiligen nationalen Kapi­tal­standorts auf und werden so zu Konkurrenten am kapita­listischen Weltmarkt­, der in­zwi­schen – nach dem Abdanken des sozialistischen Blocks – tatsächlich „global“ geworden ist. Der Ost­block wollte nicht mitmachen und wurde deshalb totgerüstet. Jetzt sind alle Staaten kapita­lis­tisch verfasst und nehmen an der Weltmarktkonkurrenz so gut sie können teil, um nicht zum Verlierer zu werden, was Konse­quen­zen hätte bis hin zum Absturz als „failed state“. In dieser Konkurrenz wird vor allem die Stärke als Wirt­schafts­standort – aber auch als Militär­macht! – in Anschlag gebracht. Da spürt jeder Staat schnell die Begrenztheit seiner eigenen Mög­lich­keiten und versucht, sich mit anderen zu Bündnissen zusam­men zu schließen. Das Ergebnis ist bekannt: Die ganze Welt teilt sich in „Blöcke“ auf, die gegen­einander „geostra­te­gi­sche“ Interessen verfolgen.

Was ist also der Grund für diese ständig kriegsträchtige Situation? Es ist die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die zwangsläufig und gesetzmäßig zu diesem Zustand führt. Das Fazit heißt: Wer den Kapitalismus nicht kritisieren will, der sollte vom Frieden schweigen.

Zur Weiterführung hier ein paar aktuelle Buchtipps:

1) Wer bezweifelt, dass mit „Putin!“ wirklich alles gesagt ist, und stattdessen wissen will, was es mit der „regelbasierten Weltordnung“ hinsichtlich der Kriegsgründe letztlich auf sich hat, dem seien folgende Analysen zu Politik und Presse im Ukraine-Krieg empfohlen: Renate Dillmann, Abweichendes zum Ukraine-Krieg. 2023. Vertrieb über Amazon, ISBN 978-3982027791.

2) Wen ein ungutes Gefühl darüber beschleicht, wie die Frage von Krieg und Frieden anlässlich des Ukraine-Kriegs mit neuer, erschreckender Schärfe und mit lautem Säbelrasseln in der deutschen Öffentlichkeit behandelt wird, dem sei empfohlen: Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo, Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch – Lektionen in patriotischem Denken über »westliche Werte«. Hamburg 2023, ISBN 978-3-96488-188-5.

3) Wer das Gesagte ins Verhältnis zur Klimafrage setzen will und sich z.B. darüber wundert, dass es für die „feministische“ Außenministerin von den Grünen vordringlicher ist, „Russland zu ruinieren“ als den Klimaschutz voran zu treiben, dem sei empfohlen: Rudolf Netzsch, Nicht nur das Klima spielt verrückt – Über das geistige Klima in dieser Gesellschaft und die fatalen Folgen für das wirkliche Klima der Welt. München 2023, ISBN 978-3-8316-2420-1.


Ein Dissident der deutschen Arbeiterbewegung

Die Website Rätekommunismus veröffentlicht Texte aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die vor allem mit der Zäsur des Jahres 1914 zu tun haben. Dazu ein Hinweis der IVA-Redaktion.

Auf der Website raetekommunismus.de sind z.B. Texte von Anton Pannekoek und von der Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK), die seinerzeit die Rätekorrespondenz herausgab, wieder zugänglich gemacht worden – und liegen teilweise auch in Printversion vor. Zuletzt wurden verschiedene Schriften von Julian Borchardt veröffentlicht (siehe auch „Die Zeitenwende – Eine historische Parallele?“ https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts23#die_zeitenwende_eine_historische_parallele).

Der Weg ins Zeitalter der Weltkriege

Der 1868 in Bromberg, dem heutigen polnischen Bydgoszcz, geborene Borchardt wurde nach seinem Studium der Volkswirtschaft in Brüssel Redakteur verschiedener sozialdemokratischer Zeitungen in Deutschland und war zeitweise Abgeordneter der SPD im preußischen Landtag. Außerdem versuchte er als „Wanderprediger“ die Grundlagen der sozialistischen Kritik unter die einfache Bevölkerung zu tragen. In den Jahren 1913 und 1914 wurde sein Verhältnis zur SPD immer angespannter, da er die parteikritische Zeitschrift Lichtstrahlen (https://www.raetekommunismus.de/Texte_Borchardt.html) herausgab.

Ein Hinweis auf den grundlegenden Charakter des Konfliktes zwischen Borchardt und der Mehrheit der Sozialdemokratie findet sich im Leitartikel „Neue Wege“ der Lichtstrahlen vom Juni 1914: „Aber das wissen wir, dass nur die Massen sich selbst befreien können; kein anderer kann das für sie tun. Dann aber versteht es sich, dass alle heutige Tätigkeit darauf abzielen muss, die Massen für diese ihre schließliche Selbstbefreiung vorzubereiten und zu ‚ertüchtigen‘. Das aber sind keine neuen Wege, sondern es ist der alte Weg, auf dem allein das Proletariat bisher wirklich vorwärtsgekommen ist. Er heißt: keine falschen, übertriebenen Hoffnungen auf die großen Männer setzen, ob mit oder ohne Abgeordnetenmandat, sondern selbst denken, selbst wollen, selbst handeln. Massenaufrüttelung, Massenbegeisterung, Massenbewegung, das ist die Bahn zum Erfolge.“

Anton Pannekoek, Karl Radek, Edwin Hoernle, Franz Mehring und Johann Knief gehörten zu den bekanntesten Autoren der oppositionellen Zeitschrift. Der endgültige Bruch mit der Partei erfolgte dann mit der Zustimmung der SPD-Mehrheit zu den Kriegskrediten am 4. August 1914. In seiner Broschüre „Vor und nach dem 4. August 1914“ (https://www.raetekommunismus.de/Texte_Borchardt/Borchardt_vor-und-nach-14-August.pdf) erklärte Borchardt die Unvereinbarkeit des Kampfes für den Sozialismus mit dem aktuellen Verhalten der Sozialdemokratie. 1916 wurde die Zeitschrift Lichtstrahlen verboten, Borchardt in Schutzhaft genommen. Die Zeit nutzte er, um Studien u.a. zur Finanzierung des Krieges zu betreiben (siehe „Woher kommt das Geld zum Kriege?“, Leipzig 1916 ).

Allerdings gab es in dieser Zeit auch heftige Auseinandersetzungen mit anderen Linksradikalen, vor allem mit der Arbeiterpolitik in Bremen, die Borchardt vorwarf, die Propaganda für den U-Boot-Krieg gegen England durch eine Vorbemerkung zu Karl Erdmanns Buch „England und die Sozialdemokratie“ unterstützt zu haben. Nach dem Krieg wurde die Veröffentlichung der Lichtstrahlen sofort wieder aufgenommen. Ihre Bedeutung reichte aber nicht mehr an die Zeit zu Beginn des Krieges heran, so dass die Zeitschrift im Jahre 1921 – auch wegen fehlender Finanzierungsmöglichkeiten – eingestellt werden musste.

Borchardt verfolgte wohlwollend die Oktoberrevolution in Russland. In ihr sah er die Möglichkeit einer sozialistischen Umgestaltung (siehe z.B. https://www.raetekommunismus.de/Texte_Borchardt/Borchardt_Diktatur_des_Proletariats.pdf). Dennoch kritisierte er Gewaltexzesse der Bolschewiki während der Revolution. Im Jahre 1919 veröffentlichte Borchardt kürzere Beiträge zu Grundfragen der kommunistischen Kritik, so über die volkswirtschaftlichen Grundbegriffe nach der Lehre von Karl Marx oder eine Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus. Diese Schriften beruhten auf den Vorträgen, die er vor dem Ersten Weltkrieg gehalten hatte. Die wohl bekannteste Veröffentlichung Borchardts ist seine gemeinverständliche Ausgabe des „Kapital“ von Karl Marx aus dem Jahre 1920. In viele Sprachen übersetzt, kann sie noch heute als eine wichtige Einführungsschrift, verfasst „in einfacher Sprache“, betrachtet werden.

Deutsche Geschichte

In den folgenden Jahren beschäftigte sich Borchardt vor allem mit geschichtlichen Fragen. Zwei Bände „Deutsche Wirtschaftsgeschichte“ erschienen in den Jahren 1922 und 1924, ab 1927 plante Borchardt eine kritische Bestandsaufnahme der allgemeinen deutschen Geschichte vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Gegenwart. Zwar wird in verschiedenen Publikationen diese Schrift erwähnt, aber eine Veröffentlichung ist bisher noch nicht zustande gekommen. In den Archiven des Internationalen Instituts für soziale Geschichte in Amsterdam haben nun die Herausgeber Ippers, Jacobitz und Königshofen, Mitarbeiter der Rätekommunismus-Website, Fragmente des Manuskripts ausfindig gemacht und den ersten Band der „Deutschen Geschichte“ veröffentlicht.

Borchardt blickt hier – stilistisch wie inhaltlich respektlos – auf die Herrschaften in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg zurück. Seine Sicht auf die Geschichte unterscheidet sich erheblich von der üblichen Geschichtsschreibung vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die die Triebkräfte der Geschichte in den guten und schlechten Charakteren der Fürsten, Könige und Kaiser vorzufinden glaubte. Borchardt hingegen untersucht die konkreten politischen und ökonomischen Umstände der damaligen Zeit und erklärt so die geschichtlichen Abläufe.

Die damalige bürgerliche Geschichtsschreibung folgte der nationalmoralischen Leitlinie, die Staatsverfassung und das Staatshandeln des deutschen Kaiserreiches vor dem Ersten Weltkrieg als Konsequenz der Politik der Hohenzollern-Dynastie zu verklären. Da blieb es nicht aus, dass die Historiker manche Purzelbäume schlagen mussten, wenn sie Intrigen und Bestechungen, Kriege und die gnadenlose Ausbeutung der armen Bevölkerung als geniale Schachzüge charakterisierten und so mit einem Heiligenschein versahen. Besonders ärgerte es Borchardt, dass durch die Geschichtsverfälschungen und -verdrehungen auch noch die Jugend in der Weimarer Republik verseucht wurde, um sie zu stolzen Staatsbürgern zu erziehen.

Die Herausgeber vermerken hierzu allerdings kritisch, dass Borchardt in der Geschichte eine fast mystische Kraft der Vorwärtsentwicklung am Werk sah. Ganz dem historischen Materialismus verpflichtet, bewertete er die Entstehung des Nationalstaates als eine notwendige Voraussetzung für die revolutionäre Umgestaltung der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft, alles getreu dem quasi vorherbestimmten Schema „Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus“ folgend. Da bekam z.B. Ludwig XIV., der den vaterländischen Geschichtsschreibern Deutschlands einfach nur als raubgieriger Herrscher galt, ein dickes Lob, weil er beim Aufbau des Absolutismus die widerstreitenden Provinzen Frankreichs zu einem Staatsganzen zusammenführte und somit die Bedingungen der Industrialisierung in Frankreich schuf. Hingegen verhinderte die kleinkrämerische Kleinstaaterei der deutschen Fürsten unter einem machtlosen Kaiser in Wien eine derartige Entwicklung, war also in dieser geschichtlichen Perspektive Feind des Fortschritts.

Natürlich war Borchardt klar, was diese progressive Entwicklung für die neu entstandene Klasse der Lohnarbeiter bedeutete: Die fast unvorstellbare Not der arbeitenden Bevölkerung beruhte auf dem Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital. Aber durch dieses Jammertal mussten die Proletarier eben durch, wollten sie als Klasse das Licht der Freiheit und des Wohlergehens im Sozialismus erleben. So gesehen bewegte sich der mutige Außenseiter Borchardt dann doch wieder im Rahmen dessen, was damals in sozialdemokratischen Kreisen (aber auch mit Abwandlungen im Leninismus) als marxistische Theorie galt.

Nachweise

Website Rätekommunismus: https://www.raetekommunismus.de/

Karl Marx, Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Gemeinverständliche Ausgabe, besorgt von Julian Borchardt. Berlin 1920/1931, online verfügbar bei: https://www.raetekommunismus.de/Texte_Borchardt/Borchardt_1920_1931_Kapital.pdf

Julian Borchardt, Deutsche Geschichte - Band I: Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Neu herausgegeben von Ursuala Ippers/Hans-Peter Jacobitz/Thomas Königshofen. Neuss 2024, 237 Seiten, ISBN 979-8879492408, erhältlich bei Amazon https://www.amazon.de/Deutsche-Geschichte-zweite-H%C3%A4lfte-Jahrhunderts/dp/B0CVNHP1N1


Februar

Der Fall Guérot III

Der „Fall“ der Politik-Professorin Guérot, die von der Bonner Universität wegen Fehlverhaltens entlassen wurde, war bei IVA 2023 bereits Thema. Dazu hier einige Publikationshinweise von Johannes Schillo.

Die Meinungsbildung in Zeiten des Kriegs geht ihre eigenen Wege. In Deutschland hat hier nach der von Kanzler Scholz angesagten „Zeitenwende“ eine regelrechte Gesinnungswende gegriffen. Die Öffentlichkeit ist eben als Vierte Gewalt im Staate vorgesehen und hat dementsprechend ihre staatstragende Rolle zu spielen – was im demokratischen Kapitalismus nichts Neues darstellt. Die Linke kann ein Lied davon singen, woran das Overton-Magazin 2022 in seiner „Zeitreise zu den 68ern“ ( Staatstreue Medien contra Dissidenz – auch im „freien Westen“? ) erinnerte.

Renate Dillmann hat das in der Jungen Welt (13.1.2024) am Beispiel der jüngsten militärischen Entwicklungen in Nahost aufgegriffen und betont, dass die Öffentlichkeit das „Ganz ohne Zensur“ (https://www.jungewelt.de/artikel/466880.gaza-krieg-ganz-ohne-zensur.html?sstr=Dillmann) hinkriegt. Auch hier gab es „von Anfang an eine nationale Leitlinie“. Dies wurde von den etablierten Medien, so Dillmann, aber nicht „als Anschlag auf ihre viel gerühmte Freiheit begriffen, sondern als Auftrag wahrgenommen. Sie haben sich darin ebenso als Medium bewährt, das die Vermittlung zwischen Staat und Bürgern gewährleistet, wie als vierte Gewalt im Staat, auf die Verlass ist. Das alles ohne staatliche Gleichschaltung und zentrale Direktive. Gespenstisch!“

Und erstaunlich ist dabei zudem, wie wenig heute an Abweichung von der gängigen Kriegsbereitschaft und Kriegsmoral genügt, um bei den Machern der Öffentlichkeit, um bei Behörden oder auch, wie im Fall des Medien- und Wissenschaftsbetriebs, bei eilfertigen Kollegen unangenehm aufzufallen. Der Beitrag über die „Hermeneutik des Verdachts“ in der Jungen Welt vom 20.12.2023 ist dem im Einzelnen nachgegangen und hat als prominentes Beispiel auch den „Fall Guérot“ herausgestellt.

Dokumentation einer Hexenjagd

An diesem Fall zeigt sich, wie (zivil-)gesellschaftliche Wachsamkeit unter der gegebenen nationalen Leitlinie dazu führt, dass dann doch noch im klassischen Sinne von den Behörden maßregelnd eingegriffen wird. Da bekommen nämlich „Professoren, die als Anhänger des ‚freien Meinens‘ im Wissenschaftsbetrieb den einen oder anderen kritischen Traktat veröffentlicht haben, zu spüren, dass sich ihre Wissenschaft ebenfalls unter den herrschenden politischen Konsens zu beugen hat“, schreibt Freerk Huisken in seiner Flugschrift „Frieden“ (2023, 84). Huisken kommt hier anschließend auf den Bonner Fall zusprechen und zitiert den Kündigungsbeschluss des Unirektorats. Dort hieß es, die Freiheit von Forschung und Lehre sei „ein Privileg, das jedoch auch mit großer Verantwortung einhergeht“. Huisken kommentiert: „Und ‚große Verantwortung‘ besteht darin, ohne Maßregelung und Zensur von oben der richtigen Parteilichkeit das wissenschaftliche Gewand zu verpassen.“

Worum geht es? Ulrike Guérot, Politik-Professorin an der Universität Bonn, hatte zusammen mit dem Wissenschaftler Hauke Ritz Ende 2022 das Buch „Endspiel Europa“ vorgelegt, das sich unter anderem dafür einsetzte, dass die deutsche Politik beim Ukrainekrieg die Möglichkeiten von Friedensverhandlungen auslotet, statt auf Kriegslogik zu setzen. Damit kam eine Kampagne gegen die Hochschullehrerin, die vorher schon die staatliche Seuchenbekämpfung kritisiert hatte, richtig auf Touren, und zwar mit dem Tenor: Wissenschaftlich sei eine solche – angeblich – prorussische Position untragbar. Und plötzlich verdichteten sich Plagiatsvorwürfe, deren Relevanz noch nicht geklärt ist, die sich im Einzelfall eher als kleinlichste Mäkelei erweisen.

Und sie erweisen sich, wie die sachkundigen Beiträge von Wissenschaftlern in dem neuen, von Gabriele Gysi herausgegebenen Sammelband „Der Fall Ulrike Guérot“ darlegen, als vorgeschobene Gründe, um störende Wortmeldungen in der Öffentlichkeit zum Schweigen zu bringen. Die Hochschullehrerinnen Heike Enger und Anke Uhlenwinkel, die ein Forschungsprojekt zu Maßregelungen im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb betreuen, sprechen von einem „Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Wissenschaftsfreiheit“ (Gysi, 15). Zwar hätten einschlägige disziplinarische Maßnahmen in den letzten Jahren überhaupt zugenommen, aber was hier geschehe, sei ein „einmaliger Vorgang“ (Gysi, 18). Der Journalist Robert La Puente bestätigt das, er geht vor allem den auffälligen Steuerungs- und Kontrollmechanismen in der öffentlichen Diskussion nach. Und der Politologe Christoph Lövenich kommt in seiner detaillierten Analyse der inkriminierten Veröffentlichungen zu dem Fazit, dass es sich „bei den betroffenen Büchern Ulrike Guérots … nicht um Plagiate“ (Gysi, 41) im justiziablen Sinne handelt, wie es etwa beim Verteidigungsminister Guttenberg der Fall war.

Die Universität Bonn nahm die Vorwürfe trotzdem zum Anlass einer Kündigung – und seitdem läuft ein Arbeitsgerichtsverfahren, dessen Ausgang offen ist. In dem Sammelband ist dazu die Stellungnahme der Bonner Universität abgedruckt, die sich im Oktober 2022 noch ohne Namensnennung „von einem Mitglied der Philosophischen Fakultät“ distanzierte und sich – für eine Hochschule eher ungewöhnlich – mit der Nato-Position identifizierte. Das Buch dokumentiert zudem eine Erklärung des Verlags, die ebenfalls die ungewöhnliche Koordination der öffentlichen Angriffe auf Guérot hervorhebt, was auch anhand einer Liste von über 50 Medienbeiträgen belegt wird. In der Hauptsache zeigen diese das Faktum einer abgestimmten öffentliche Stimmungsmache, wie Gysi schreibt, also das, „was mit einem prominenten Bürger passiert, der sich den ‚Wahrheiten‘ und der Macht des Mainstreams entgegenstellt“ (Gysi, 76).

Deutsche Dissidenz 2022ff

In der Tat, es ist ein eindeutiger Fall von Dissidenz, der von einer erstaunlich selbstverständlichen Gleichschaltung im Wissenschafts- und Medienbetrieb zeugt. Der von Gysi erhobene Vorwurf der „versuchten Hinrichtung“ greift dabei etwas hoch. Vertretbar ist er, weil er die Heftigkeit und Zielstrebigkeit der Kampagne trifft. Allem Anschein gehört dazu auch die Tatsache, dass das Arbeitsgerichtsverfahren (das für die Bonner Universität mit einem peinlichen Ausgang enden könnte) immer wieder verschoben wird. So kann man auch ein unbequeme Person mürbe machen!

Wichtig ist hier aber vor allem, dass ein Exempel statuiert wird. Huisken schreibt dazu: „Die hierzulande durchgesetzte Parteilichkeit für den Ukra­inekrieg und die deutsche Beteiligung an ihm stellt längst keine bloße Meinung dar, sondern weiß sich bereits zur antikritischen Fahndung beauftragt“ (Huisken, 83). Und dieses Signal sei im Wissenschaftsbetrieb angekommen. In der Tat, in der Hochschulgemeinde gibt es keine Aufregung darüber, was mit einer Person aus ihrem Kreis angestellt wird. Im Gegenteil, Versuche, das Buch von Gysi bekannt zu machen, stoßen etwa in der Fachöffentlichkeit auf große Bedenken. Da müssen die Zuständigen der öffentlichen Verurteilung gar nicht zustimmen, es reicht das Wissen, dass es besser ist, dieses heiße Eisen nicht anzufassen.

P.S. Noch eine abschließende Bemerkung zum Vorwurf der versuchten „Hinrichtung“, der als unangemessen erscheinen könnte. Vielleicht wäre es besser, um hier ein passendes Bild zu wählen, von einer Hexenjagd zu sprechen. La Puentes Beitrag in dem Sammelband lässt ja erkennen, dass in diesem Fall auch Ressentiments gegen eine öffentlich präsente und selbstbewusst auftretende Frau mit im Spiel sind. So wie es aussieht, ist eine akademisch-pressemäßig gut vernetzte Männerclique dabei, eine unbequeme Autorin aus der Gemeinschaft der anständigen Deutschen auszuschließen – ein Vorgang, der von denjenigen, die sich sonst vor Gendersensibilität überschlagen, ziemlich gelassen hingenommen wird.

Einer aus der besagten Clique, der wohl auch eine führende Rolle bei der Kampagne spielt, ist der FAZ-Redakteur Patrick Bahners. Der lässt kaum eine Gelegenheit aus, Guérot ins Abseits zu stellen. In seinem neuesten Buch „Die Wiederkehr“ über die AfD (2023) erwähnt er z. B. Guérots Klage, dass derzeit „kritische Meinungen marginalisiert, diffamiert und stigmatisiert“ (Bahners, 222) würden. Das empfindet der FAZ-Mann, der in und mit seinem Blatt einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, welche Meinungen in Deutschland zählen, als einen Witz. Davon sei nichts zu entdecken, „in einem Wörterbuch der Gemeinplätze des gegenwärtigen Weltmoments müsste die Idee der Gefährdung der Meinungsfreiheit durch die Herrschaft des Mainstreams einen Sonderplatz einnehmen“ (Bahners, 223). Dissidenz im liberalsten Deutschland, das es je gab – da kann der Profi der veröffentlichten Meinung nur lachen!

Literatur

Patrick Bahners, Die Wiederkehr – Die AfD und der neue deutsche Nationalismus. Stuttgart (Klett-Cotta) 2023.

Gabriele Gysi (Hg.), Der Fall Ulrike Guérot – Versuche einer Hinrichtung. Frankfurt/Main (Westend) 2023 https://www.westendverlag.de/buch/der-fall-ulrike-guerot/

Freerk Huisken, Frieden – Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass. Hamburg (VSA) 2023.

Siehe auch die Beiträge auf der IVA-Website unter Texte2023: Der Fall Guérot I und Der Fall Guérot II .


Januar

Eine Bewegung, die (fast) nichts bewegt

Ende 2023 legte Rudolf Netzsch eine Veröffentlichung zu Klimakatastrophe und -protest vor. Hier einige Hinweise von Johannes Schillo dazu, welche Debatte damit eröffnet ist.

Der Naturwissenschaftler Rudolf Netzsch hat kürzlich das Buch „Nicht nur das Klima spielt verrückt“ (2023) vorgelegt. Es widmet sich einer „Verrücktheit“, die wir alle auf dem Globus – hier stimmt ausnahmsweise einmal der menschheitsverbrüdernde Ausdruck! – Tag für Tag besichtigen können: Die Klimakatastrophe ist laut sämtlichen sachkundigen Dia- und Prognosen unterwegs und ja auch in internationalen Vereinbarungen als erstrangiges Menschheitsproblem anerkannt. Die Konsequenz, die die Staatenwelt daraus zieht, ist aber im Grunde nichts anderes als business as usual.

Ist das verrückt?

Ja, dazu kann man Wahnsinn sagen. Doch hat er Methode, wie der Autor im detaillierten Durchgang durch die Problemlage nachweist, wobei mit „business“ bereits der entscheidende Punkt benannt ist. Das kapitalistische Geschäftsleben (und die dazu gehörige militärische Gewalt – eine gigantische Naturzerstörungsapparatur, die aber auf den einschlägigen Konferenzen nie Thema ist) hat mit seiner Programmierung auf Naturverschleiß und Wachstum Sachzwänge etabliert, die jede Schutzmaßnahme gleich zu einem Kostenproblem machen. Obwohl man weiß, was droht, ist daher die Abwendung der Gefahr wie auch die Beseitigung der eingetretenen Schäden immer eine Angelegenheit von relativer Dringlichkeit.

Staaten, die sich der Förderung des Wirtschaftswachstums verpflichtet fühlen – und wer ist das heutzutage nicht? –, sind beim Schutz der Natur vor den katastrophalen Auswirkungen des Wachstumszwangs, die ja gar nicht geleugnet, sondern bei Gelegenheit, auf Konferenzen und in Sonntagsreden, groß an die Wand gemalt werden, immer mit dem Problem konfrontiert, Ökonomie und Ökologie zu vereinbaren. So die offizielle Sprachregelung, die die Relativität des Umweltanliegens deutlich macht. Die Marktwirtschaft muss weiter ihren Gang gehen und sehen, ob und wie sehr sich die erneuerbaren Energien rechnen. Eine Energiewende ist ja durchaus unterwegs, die man aber eher – siehe die Analysen von Schadt und Weis (2022, 2023) – als „deutschen Energieimperialismus“ einordnen muss. Und vielleicht wird sie als ‚Kollateralnutzen‘ auch die eine oder andere Verbesserung im Hinblick auf den Klimawandel mit sich bringen…

Bis es soweit ist, gibt es neben dem großen Projekt der Transformation des Kapitalstandorts nicht nur staatlich geduldetes „Greenwashing“, sondern auch tolle Ideen zu einem in Zukunft – eventuell – möglichen „Geoengineering“, das die Emission der Treibhausgase weiterlaufen lassen und mit neuen Erfindungen später wieder einfangen will. So werden, wie Netzsch resümiert, „Vorschläge, die jeder unvoreingenommene Mensch sofort als Schnapsidee abweisen würde, dennoch von offizieller Seite ernsthaft ins Gespräch gebracht und auch noch mit Fördergeldern akademisch ausgearbeitet.“ (Netzsch, 119)

All das weiß die Protestbewegung – von den Fridays for Future bis zur Letzten Generation; sie weiß auch, dass moralische Appelle zur Änderung des individuellen Konsumverhaltens und zu einem allgemeinen Umdenken in der Bevölkerung nicht weiter helfen, so lange die Rahmenbedingungen die alten bleiben. Netzsch – der diese Individualisierung des Problems in den beiden ersten Kapiteln seines Buchs thematisiert – zeigt aber, dass die Schwachstelle des Protests gerade da liegt, wo der Rahmen, den das System setzt, in den Blick geraten müsste.

Wogegen hat sich sich die Forderung nach einem system change (der ja, wie die Parole heißt, statt climate change stattfinden soll) zu wenden und mit welchen Mächten bekommt sie es dabei zu tun? Das ist die Leitfrage des Buchs, das also nicht noch einmal eine Bilanz der Umweltverwüstungen liefert, sondern sich auf die Gründe der Misere – und damit auf die einzig erfolgversprechende Perspektive einer „Problemlösung“ – konzentriert.

Marx – ein Ökologe?

Konsequenter Weise geht Netzsch auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zurück, denn diese hat ja zum ersten Mal in stringenter Form die Wachstumsnotwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise erklärt und dabei gleich in umfassender Weise kritisiert. Die kritisierte Notwendigkeit ergibt sich nicht einfach aus dem Sachverhalt, dass Naturbeherrschung und -verbrauch für menschliche Bedürfnisbefriedigung stattfindet, wie das marktwirtschaftliche Apologeten behaupten, aber auch Aufrufe zur Bewahrung der Schöpfung, so etwa Papst Franziskus in seiner Umweltenzyklika Laudato si’, unterstellen. Sie folgt vielmehr aus dem speziellen Zweck, der in der marktwirtschaftlichen Praxis gnadenlos waltet: Abstrakter Reichtum ist das Ziel, die Produktion ist Verwertung eines eingesetzten Werts und das gelungene, aber in der Konkurrenz immer wieder durchzusetzende Resultat ist das Einstreichen eines vermehrten Geldbetrags. Und addiert als gesamtwirtschaftliche Leistung gibt dann eine einzige Zahl, die prozentuale Angabe, ob und wie sehr die Vorjahressumme gesteigert werden konnte, Auskunft darüber, ob das Wirtschaftsleben „gesund“ ist oder zu kränkeln anfängt. Netzsch zitiert natürlich das berühmte Fazit von Karl Marx im ersten Band des „Kapital“, worauf auch andere Kritiker wie z.B. Kohei Saito (2016) verweisen, das die Konsequenzen einer solchen Produktionslogik benennt: „Die kapitalistische Produktion entwickelt nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (MEW, Bd. 23, S. 529f) Netzsch gibt mit seinem Buch in der Hauptsache einen konzisen, gut verständlichen Überblick über die Marxsche Kritik und erinnert auch daran, dass Marx selber schon ökologische Studien betrieben hat.

Er stellte etwa Studien zur Agrarwissenschaft an, die zu seiner Zeit entstand und die sich mit Möglichkeiten der chemischen Bodenbearbeitung befasste. Er widmete sich also einem Thema, das dann 100 Jahre später (natürlich unter den fortgeschrittenen naturwissenschaftlichen und technologischen Bedingungen) von der Biologin Rachel Carson aufgegriffen wurde. Carson kritisierte die gefährlichen Folgen der modernen landwirtschaftlichen Bodennutzung und die Auswirkungen einer rigorosen Unkrautvernichtung auf Ökosysteme, wobei ihr Bestseller „Silent Spring“ („Der stumme Frühling“) aus dem Jahr 1962 „häufig als Ausgangspunkt der US-amerikanischen Umweltbewegung bezeichnet wird“ (Wikipedia).

Friedrich Engels hatte sich schon in seinen frühen Schriften zu Umweltproblemen geäußert, so zur Verpestung der Luft und zur Verschmutzung von Gewässern in seinem Bericht über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845, MEW, Bd. 2, S. 225ff). Seine „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ von 1844 (MEW, Bd. 1, S. 505), die die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie entscheidend beeinflussten, sprachen dann hoffnungsvoll vom „großen Umschwung, dem das [19.] Jahrhundert entgegengeht, der Versöhnung der Menschen mit der Natur und mit sich selbst.“

Eine eigene Umweltbewegung war damals jedoch nicht im Programm. Den großen Umschwung sahen Marx und Engels in der Entstehung der Arbeiterbewegung. Durch diese sollten die Klassenherrschaft und damit auch die Gründe der Natur­zerstörung beseitigt werden; das hieß für die politische Arbeit, sich auf die Förde­rung dieser internationalen Bewegung zu konzentrieren. „Entsprechend standen auch in der theoretischen Arbeit die dafür unmittelbar relevanten Themen im Vordergrund“ (Netzsch, 80), was eben keine Ignoranz gegenüber der ökologischen Frage bedeutete. Man setzte nämlich auf den – scheinbar – nahe liegenden Erfolg der antikapitalistischen Bewegung.

Etwas bewegen?

Der Schlussteil des Buchs geht auf das Resultat ein, das heute jeder kennt: Die Arbeiterbewegung ist Historie, genauer gesagt: Sie wurde vom Staat eingehegt, so dass dieser heute als selbstverständlicher Adressat aller Beschwerden gilt, ob sie sich nun auf den Schutz der arbeitenden Menschen oder der natürlichen Lebensgrundlagen beziehen (siehe Schillo 2024). Und in der Tat, der Staat, der sich der Aufrechterhaltung des Kapitalismus verpflichtet weiß, macht ja sowohl Sozial- als auch Umweltpolitik. In dem Sinne können auch Proteste, die sich gegen die Erosion des sozialen Zusammenhalts oder die Zerstörung der nationalen Naturbedingungen beziehen, etwas bewirken. Anerkannt sind solche Klagen sowieso, wenn sie die Sorgen des einfachen Volks an die wirklich Zuständigen zurückmelden oder auf Funktionserfordernisse einer kapitalistischen Ökonomie aufmerksam machen.

Was sie nicht bewirken, ist die Außerkraftsetzung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses, der die von Marx aufgespießte „Untergrabung“ sachzwangmäßig vorantreibt. Die als politikfähig gehandelten ökologischen Konzepte – von den Mogelpackungen des Greenwashing über Grünes Wachstum und Degrowth bis hin zu den Parolen des „Small is beautiful“ – wollen hier ein realistisches Angebot machen, bleiben aber illusionär, wie Netzsch in einer ausführlichen Kritik nachweist. Dabei wird auch wieder deutlich, dass die Umweltbewegung, so wie sie heute mehrheitlich unterwegs ist, mit Forderungen nach einer Postwachstumsökonomie oder Ähnlichem ihren Frieden mit dem angefeindeten System macht. Letztlich soll es doch eine Verhaltensänderung von uns allen sein, mit der auf die drohenden Gefahren zu antworten ist.

Man muss eben handeln. Die Zeit drängt schließlich. Die Zeit drängt natürlich auch an einer anderen Stelle: Wenn man die derzeitige – quantitativ eher überschaubare, in ihrer Öffentlichkeitswirkung dem Umweltprotest vergleichbare – Friedensbewegung nimmt, so kann diese mit gleichem Recht darauf verweisen, dass sie das existentielle Menschheitsanliegen vertritt. Denn wenn es zum nuklearen Holocaust kommt, dann wird die Erde unbewohnbar, bevor die Klimakatastrophe ihre volle Wucht entfaltet.

Was in der gegenwärtigen Lage Not tut, da kann man der Kritik von Netzsch nur zustimmen, ist die Aufklärung darüber, wo die Gründe des angeprangerten Desasters liegen. Das brauchen die Aktivisten des Protests, um sich selber klar zu machen, was anzugreifen und außer Kraft zu setzen ist, und um damit dann auf ihr Publikum loszugehen – statt die Enttäuschung über das Versagen der Politiker immer wieder aufs Neue zu verbreiten.

Das wäre das Entscheidende, das eine Bewegung, die sich seit Jahrzehnten auf offiziell anerkannte hehre Ziele beruft und deren praktische Bedeutungslosigkeit beklagt, zu klären hätte. Wie sich dann Bewegungen, die die Übel der herrschenden Verhältnisse beim Namen nennen, zueinander stellen sollten, wäre im Einzelnen zu thematisieren. Wenn sie etwas bewegen wollen, müssen sie aber auf jeden Fall die von Netzsch dargelegte Einsicht berücksichtigen: Es handelt sich hier nicht um diverse Übel, die sich jeweils Fehlgriffen oder Fehlbesetzungen in der Politik verdanken. Sie haben vielmehr System!

Nachweise:

Rachel Carson, Silent Spring. US-Originalausgabe: Boston 1962. Deutsche Ausgabe: „Der stumme Frühling“, 1963.

MEW – Marx-Engels-Werke. Berlin (Dietz) 1965ff.

Rudolf Netzsch, Nicht nur das Klima spielt verrückt – Über das geistige Klima in der heutigen Gesellschaft und die fatalen Folgen für das wirkliche Klima der Welt. München (Literareon im Utzverlag) 2023, 204 Seiten, 17,50 Euro, ISBN 978-3-8316-2420-1 https://www.literareon.de/index.php/catalog/book/42420.

Kohei Saito, Natur gegen Kapital – Marx‘ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus. Frankfurt/Main (Campus) 2016.

Peter Schadt/Nathan Weis, High Energy – Nord Stream 2 ist gestoppt. Deutschland will trotzdem zum bestimmenden energiepolitischen Akteur werden. In: Konkret, Nr. 4, 2022.

Peter Schadt/Nathan Weis, Deutsches Wesen – Über den deutschen Energieimperialismus. Zweiter Teil einer Serie. In: Konkret, Nr. 1, 2023.

Johannes Schillo, Arbeiterbewegung und Umweltbewegung. In: Gewerkschaftsforum, 27.1.2024 https://gewerkschaftsforum.de/arbeiterbewegung-und-umweltbewegung/.


Flucht und Migration – die deutsche Nation schlägt Alarm!

Im Overton-Magazin erschien jüngst ein Beitrag von Johannes Schillo zu Flucht und Migration, die nach sachkundiger Auskunft einen einzigen Anschlag auf „uns“ darstellen sollen. Hier eine aktualisierte Fassung des Beitrags.

Gestern herrschte noch von Meloni bis von der Leyen, von Scholz bis Höcke große Einigkeit bei europäischen Politikern, dass die „Irreguläre Migration“ das neue Schreckensszenario Nr. 1 darstellt und dass hier ein Kampf gegen den „Kontrollverlust“ angesagt ist. Heute entdeckt man, dass die AfD unverdrossen mit dem Thema Politik macht und das Schlagwort „Remigration“ besetzt, worauf die demokratischen Rivalen es zum Unwort des Jahres erklären lassen. Und ab dem nächsten Tag arbeiten diese dann wieder mit voller Tatkraft daran, dass nachhaltig abgeschoben, an den Grenzen scharf kontrolliert und rücksichtslos abgeschottet wird.

Die große Not

Kanzler Scholz hält nämlich – wie die meisten regierenden Politiker – nichts davon, die AfD zu verbieten. Dass die Rechten hier ein drängendes Problem der nationalen Agenda ausschlachten, ist ihm klar. Und aus seiner Partei wird er ja, nachdem jetzt das Aufreger-Thema Migration die AfD wieder ins Rampenlicht gebracht hat, dazu aufgefordert, „bei der ‚Begrenzung der Migration … mutiger‘ zu werden und ‚den Konflikt mit den Grünen in Kauf zu nehmen‘.“ (Junge Welt, 16.1.24) Da kann man dem Kommentar der JW nur zustimmen: Das Gegenrezept besteht darin, „rechte Politikansätze zu übernehmen“.

Die große Not, die „uns“ durch Flucht und Migration droht, wird von Journalisten und Politikexperten dem Publikum regelmäßig vorgeführt, wobei es aber auffällige Leerstellen oder Problemverschiebungen gibt. Zum Beispiel findet „eine der größten Massenvertreibungen der Gegenwart“ in Pakistan statt, wo rund zwei Millionen afghanische Geflüchtete gezwungen werden, das Land zu verlassen – und zwar unter dem fadenscheinigen Vorwand: „Kollektiver Terrorverdacht“. Über diese Katastrophe berichtete jüngst Emran Feroz im //Overton//-Magazin und verwies zugleich auf das Desinteresse des – wertebasierten – Westens an dieser Not: Der Zynismus Pakistans, das jahrzehntelang militante Gruppierungen im Nachbarland unterstützte und jetzt auf seine Weise die Kriegsfolgen aufarbeitet, rufe in der Weltöffentlichkeit keine Aufregung hervor, alarmiere auch nicht die Politik.

Wenn ein Weltblatt wie die FAZ (23.12.23) dagegen zum Fest des Friedens nach Finnland blickt, ist die Aufregung groß. An der Grenze zu Russland sei das neue skandinavische Nato-Mitglied „auf hybride Angriffe seit Langem eingestellt – nun sind sie erfolgt“. Wie das? Kamen Raketen an, hat der Russe schon wieder ein Land überfallen? Nein, viel heimtückischer, „innerhalb weniger Wochen (kamen) 1200 Asylsuchende über die Grenze – für ein Land wie Finnland eine große Zahl. Berichten zufolge warten kurz hinter der Grenze viele weitere Migranten.“

Dass Russland nicht bereit ist, den Dienstleister an der EU-Abschottung zu spielen, sondern Flüchtende (die angeblich meist nach Deutschland streben) ziehen lässt, soll ein einziger Skandal, ja sogar der Kriegsfall sein. „Es handelt sich offensichtlich nicht um ein Flüchtlingsthema, sondern um hybride Kriegführung“, sagte der Vorsitzende des finnischen Verteidigungsausschusses, der die Gefahr von Millionen Eindringlingen beschwor und quasi den europäischen Verteidigungsfall ausrief: „Wir handeln hier für die gesamte EU.“

Flucht und Migration nach der Zeitenwende

Im Blick auf die deutsche Zeitenwende hat Norbert Wohlfahrt zuletzt in der Jungen Welt ( „Ideal im Staatskorsett“) Bilanz dazu gezogen, wie der westliche bzw. europäische Nationalismus seinen Humanismus neu ordnet. Denn der an Werten orientierte Westen sieht bei sich großen Handlungsbedarf. Dass die westlichen Kriege im Nahen oder Mittleren Osten Millionen Menschen in die Flucht treiben und die dortigen Anrainerstaaten vor größte Herausforderungen stellen, ist dagegen deren Problem, zu dem dann die UNO-Hilfswerke – je nachdem – Flüchtlingslager oder Care-Pakete beisteuern. Die Islamische Republik Iran z. B., das kann man von der //UNO-Flüchtlingshilfe// erfahren, beherbergt eine große Zahl afghanischer Flüchtlinge. Bis Ende 2020 waren es rund 780.000 registrierte. Zusätzlich befinden sich Schätzungen zufolge mehrere Millionen Menschen aus Afghanistan ohne Ausweisdokumente im Iran. Zigtausende Iraker sind dorthin auch vor dem Irak-Krieg geflohen.

Aber Iran oder Pakistan haben in solchen Fragen weltordnungspolitisch nichts zu melden (und Ähnliches gilt für afrikanische Länder). Sie sollen sehen, wie sie mit „unseren“ Kriegsfolgen zurechtkommen, nachdem z. B. Nato-Staaten, darunter vorneweg die Bundeswehr als einer der großen Truppensteller, 20 Jahre lang in Afghanistan gewütet haben. Der eigentlich Betroffene sind nämlich wir, wie Wohlfahrt jetzt die hiesigen Debatten unter Politikexperten und -beratern resümiert:

„Das Subjekt der humanitären Ordnung der Flüchtlingspolitik sind die Demokratien der westlichen Welt, die ihren humanitären Auftrag durch ‚geschlossene Grenzen‘ entweder gefährden oder aufgerufen sind, nationale Interessen in der Flüchtlingspolitik stärker zur Geltung kommen zu lassen. Das Insistieren auf der Fortdauer einer humanitären Flüchtlingspolitik oder der Rettung derselben durch mehr Abschottung geht von der felsenfesten Überzeugung aus, dass der humanitäre Auftrag der Menschenrechte nur durch diejenigen eingelöst werden kann, die diese zum Leitmotiv der postkolonialen Neuordnung der Welt gemacht haben.“ (N. Wohlfahrt)

Die Einlösung menschenrechtlich begründeter Ansprüche war jedoch nie einfach als Hilfe für Notleidende oder gar als Abschaffung menschenfeindllicher Lebensumstände gedacht. Es sollte vielmehr ein globaler Kapitalismus durch ein Rechts- und Wertesystem durchgesetzt und aufrechterhalten werden, das sich die – schon existierenden oder in die Unabhängigkeit zu entlassenden – Nationalstaaten dann zu eigen zu machen und bei ihrem souveränen Handeln als Orientierungspunkt zu respektieren hatten.

Der Humanismus des Völker- und Menschenrechts abstrahierte gleichzeitig von den politökonomischen Grundlagen, auf denen sich die Freiheit & Gleichheit konkurrierender Wirtschaftsbürger und ihrer Standorte vollzieht, und betrachtete folgerichtig Hunger, Krieg und Flucht als Produkt gelungener oder gescheiterter Nationalstaatlichkeit. So gilt im Rahmen der US-Weltordnung seit 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, sie fasst das Ideal einer Welt souveräner Nationalstaaten ins Auge, die ihren Völkern gleiche Rechte gewähren und internationale Abkommen und Verträge respektieren. Das Recht auf Leben und Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz und das Verbot der Sklaverei korrespondieren dabei mit einem humanitären Auftrag, der u. a. jedem das Recht zuweist, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen (Art. 14).

Deutschland muss handeln

Wie Norbert Wohlfahrt jetzt anhand der deutschen Debatte zeigt, ist dieser Humanismus geregelter Staatlichkeit, der mit Asylrecht und Hilfswerken den Staatenverkehr flankiert, nicht mehr zeitgemäß. Aber nicht, wie eingangs erwähnt, weil das Elend der armen Länder zum Himmel schreit. Vordenker deutscher Politik wie Hans-Peter Schwarz sehen vielmehr – ganz im Einklang mit den politischen Ansagen – eine „neue Völkerwanderung nach Europa“ unterwegs und räsonieren „über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten“. „Wir“ sind jetzt bedroht, der Universalismus der früheren Asylrechtsreglung passt nicht mehr zu einer Welt, in der nach der Zeitenwende eine globale Frontbildung stattfindet.

„In dieser Situation“, resümiert Wohlfahrt, „führt der russische ‚Angriffskrieg‘ zu einem Schub humanitärer Herausforderungen, die die Flüchtlings- und Asylpolitik zu einem Baustein der umfassenden Militarisierung und Kriegsvorbereitung werden lassen.“ Human ist heute eine Politik, die zu unterscheiden weiß, die z. B. Millionen ukrainische Flüchtlinge zu Sonderkonditionen in die EU lässt – „Im Dezember 2023 sind in den Ländern Europas rund 5,9 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine registriert“ (https://de.statista.com) – und die an anderer Stelle, wenn es etwa um Afrika geht, auf schärfster Abschottung besteht. Oder die den Welt(arbeits)markt zur Behebung des deutschen Fachkräftemangels durchmustert, aber bei gewöhnlichen Wirtschaftsflüchtlingen kein Pardon kennt.

Wichtig ist eben, dass „wir“ die Kontrolle über die weltweiten Fluchtbewegungen behalten. Alt-Bundespräsident Gauck warnt dementsprechend im Bild-Interview (bild.de, 7.1.24) „vor unbegrenzter Migration“ und wirft im Blick auf die Politik der Ampelregierung, die gerade dieselbe Sorge umtreibt, die Frage auf: „Wollt ihr, dass ein Kontrollverlust eintritt?“ Das Lösen der „Migrationskrise“ bedarf aus Gaucks Sicht „einer gewissen Entschlossenheit und mitunter auch der Härte“. „Für viele Christenmenschen, die anderen, denen es schlecht geht, helfen wollen“, sei das eine harte Probe – so viel pfäffisches Mitgefühl bringt Pfarrer Gauck noch auf. Aber der Realist in ihm weiß, dass man den Rechten nicht das Feld überlassen darf: „Auf der anderen Seite muss man diese Menschen dann fragen: Wollt ihr denn, dass in Europa ein Kontrollverlust eintritt, und dass dann nicht nur 20 oder 30 Prozent Rechtsaußen wählen, sondern 40 oder 50 Prozent?“

Unterm Strich bleibt: Politik muss Härte zeigen, wenn es gilt, im Innern oder im Äußern Störenfriede auszuschalten. Die Zurückdrängung des russischen – und perspektivisch: des chinesischen – Feindes stellt den Humanismus des Menschen- und Völkerrechts ganz in den Dienst des Nationalismus der sich „kriegstüchtig“ (Pistorius) machenden Staatenwelt. Passend dazu die Alarmmeldung der FAZ aus den Weihnachtstagen, dass Putin jetzt schon (wie seinerzeit Lukaschenko) Flüchtlinge als Waffe einsetzt.

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texts24.txt · Zuletzt geändert: 2024/09/15 11:42 von redcat

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